Leitartikel
"Das Drama von Neukirchen: Ein Richterspruch, der die Gesellschaft auf den Prüfstand stellt
Recht bekommen, Recht haben und das Richtige tun sind sehr unterschiedliche Dinge. Der frühere Bürgermeister von Neukirchen in Nordhessen hat das mehr als schmerzlich spüren müssen. Fast acht Jahre ist es her, dass in seiner Gemeinde drei Kinder in einem Feuerlöschteich ertranken. Mehrfach wurde er wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Nun, in letzter Instanz der Freispruch. Der Fall hatte damals deutschlandweit dazu geführt, dass eilig Badestellen abgesperrt und geschlossen wurden. Zu groß war die Angst vieler Bürgermeister, selbst vor dem Kadi zu landen. Das Urteil hat zwar in Tausenden Kommunen zu einem Aufatmen geführt, wirklich sicher sein können sich die Bürgermeister aber auch jetzt nicht. Denn der Richterspruch sagt nur: „Auch gebotene Maßnahmen zur Sicherung des Teichs hätten den Tod der Kinder wohl nicht verhindern können“. Kurzum: Er hätte mehr machen können, aber das ist strafrechtlich nicht relevant.
Der Fall zeigt auf verschiedenen Ebenen Probleme unserer Gesellschaft auf. Da ist zunächst die Tatsache, dass zwischen dem Unglücksfall und dem finalen Urteil fast acht Jahre vergingen. Heißt es nicht von Richtern immer wieder, dass „die Strafe auf dem Fuße folgen muss?“. Oder in diesem Fall eben auch der Freispruch? Viele Kommunen mag das an den vergangenen Sommer erinnern, als es zu Gewalttaten in Freibädern kam. Meist nahm die Polizei die Personalien auf und die Täter durften wieder gehen. Doch vor allem junge Täter müssen merken, dass ihre Taten auch Folgen haben. Der Ladendieb, der zwei Jahre später erst verurteilt wird, bekommt das Signal: „Du kannst weitermachen, Konsequenzen vielleicht irgendwann mal“. Hinzu kommt: Wenn wir weiter Kriminellen die Straße oder auch das Freibad überlassen und der Staat anscheinend hilflos zuschaut, provoziert das Selbstjustiz. Siehe Gewalt gegen Klima-Kleber.
Die Rolle der Medien in unserer Gesellschaft
Als Magazin, das wie kein anderer den Prozess über die Jahre hinweg begleitet hat, hagelte es auch reichlich Kritik an uns Journalisten. Immer wieder bekam ich Mails und Anrufe, wir mögen doch das Thema nicht so sehr in den Fokus rücken. Erst durch unsere Berichterstattung seien viele Bürgermeister auf die Gefahr durch Teiche hingewiesen worden und hätten sie abgesperrt. Womit wir bei der Rolle der Medien in unserer Gesellschaft sind. Immer wieder gibt es etwa bei der Berichterstattung über Gewalttaten Diskussionen darüber, ob die Nationalität eines Täters genannt werden darf. Welchen Grund gibt es, das zu verschweigen? Verschämtes Wegschauen bringt uns keinen Schritt weiter! Es ist ein Armutszeugnis, dass junge Menschen heute Influencer und Online-Videos für glaubwürdiger halten, als traditionelle Medien. Aber es ist eben auch ein hausgemachtes Problem. Diesen Menschen wird geglaubt, weil sie ihre Nutzer über viele Jahre hinweg wie einen Freund, einen Partner behandelt haben. Sehr persönlich, einzelne Gesichter stehen hier im Vordergrund. Die meisten Magazine hingegen verstecken sich weiter gerne hinter ihrer „Redaktion“, Persönlichkeiten mit auch mal provozierenden Aussagen sind eher die Ausnahme. In der Corona-Phase wirkten viele Medien auf die Leser eher wie eine Außenstelle des Bundespresseamtes und nicht wie Medien, die kritisch hinterfragten. Der Vertrauensverlust ist enorm. Das Ergebnis: Menschen, die per Video für Proteinpulver und Kosmetika werben, gelten – auch wenn sie dann politische Botschaften verbreiten – als glaubwürdiger als Medienanstalten, die Milliarden an Werbegeldern oder Zwangsgebühren kassieren.
Was wir nach dem Richterspruch in unseren Kommunen wieder tun sollten...
All das hat Auswirkungen auch auf uns als Kommunen. Die sachferne Emotionalisierung breiter Wählerschichten werden wir in diesem Jahr bei den Kommunalwahlen in neun Bundesländern massiv zu spüren bekommen. Die Einfacherklärer müssen selbst gar nicht beweisen, dass sie Alternativen haben, die auch funktionieren. Die Behauptung, die Legende einer Alternative, reicht völlig aus. Wenn sie denn nur einfach gestrickt und vor allem halbwegs glaubwürdig daher kommt. Wenn diejenigen sich trauen das zu sagen, was andere eben nicht sagen. Das beginnt bei der Nationalität von Tätern, das geht über die Sprachpolizei beim Laternenfest statt des St. Martins-Festes. Und wenn dann der Weihnachtsbaum in der Kita im Namen der Religionsfreiheit verboten wird, manifestiert sich erst recht der Eindruck, man dürfe sich öffentlich nicht mehr frei äußern. Die jüngste Allensbach-Umfrage zeigt das einmal mehr in dramatischer Weise. Veröffentlicht am 19. Dezember. Nur noch 40% der Deutschen sind demnach überzeugt, dass sie ihre Meinung frei sagen können! Der schlechteste Wert seit 70 Jahren. Die Mehrheit der Deutschen traut sich nicht mehr frei zu sagen, was sie denken.
Es liegt also auch an uns in den Städten und Gemeinden, dass wir Prozesse nachvollziehbar, verständlich und zeitnah entscheiden und kommunizieren. Mit einer verängstigen Republik, in der laut aktueller Allensbach-Umfrage 78 Prozent der Befragten sagen, dass man bei bestimmten Dingen vorsichtig sein müsse, was man in der Öffentlichkeit sagt, ist kein Staat zu machen.
In diesem Sinne meine Bitte zum neuen Jahr an Sie: Beweisen Sie auch weiter Mut, ertragen Sie notfalls auch einen Shitstorm. Der geht meist ohnehin nur von einer kleinen, aber lautstarken Minderheit aus. Die Mehrheit wird Ihnen für Klartext, Transparenz und mutiges Handeln danken. Wenn auch oft nur im Stillen!