Portrait
Wenn der Bürgermeister das Augenlicht verliert
In seiner Tasche hat Bürgermeister Thomas Gesche stets eine elektronische Leselupe. Und auf dem Schreibtisch ein Gerät zur Sprachausgabe geschriebener Texte. Denn seit Januar 2021 leidet der Bürgermeister des bayerischen Burglengenfeld, einem 14.000-Einwohner-Städtchen in der Nähe von Regensburg, an einer genetisch bedingten Augenkrankheit: Seine Sehfähigkeit verschlechterte sich innerhalb von wenigen Monaten auf nur noch drei Prozent. „Ich saß hier in diesem Büro abends an meinem Monitor und habe gemerkt, dass ich verschiedene Dinge plötzlich nicht mehr richtig sehen konnte“, erinnert sich Gesche. Doch auch ein größerer Monitor brachte keine Besserung. „Da merkte ich, dass es nicht an meinem Computer, sondern an meinen Augen liegen musste.“
Der Bürgermeister und das Umdenken in Sachen Barrierefreiheit
Heute kann Gesche noch zwischen hell und dunkel unterscheiden. Ohne Lesehilfe sieht der Bürgermeister nur die Umrisse von Gesprächspartnern. „Vor mir steht jetzt eine Tasse“, sagt der Bürgermeister. Dass auf der Tasse ein Foto seiner Stadt abgebildet ist, kann er ohne Hilfe nicht erkennen. „Ich hoffe darauf, dass eine neue Gentherapie, die gerade entwickelt wird, mir wenigstens etwas von meiner Sehfähigkeit zurückgeben kann.“ Und dennoch: Das Amt aufzugeben, kam für den Vollblut-Kommunalpolitiker nicht in Frage. Nach drei Monaten Auszeit, die vor allem der Diagnose dienten, war er wieder zurück am Schreibtisch. Manches ist seitdem anders geworden in Burglengenfeld: „Die Menschen wissen, dass ich nicht mehr alles sehen kann und haben sich entsprechend darauf eingestellt“, sagt Gesche. Die Kommune bezahlt ihm nach einem einstimmigen Gemeinderatsbeschluss eine persönliche Assistentin, mit deren Hilfe er etwa Briefe verfassen oder Texte bearbeiten kann. Und wenn Thomas Gesche einen der über 130 Vereine in der Stadt besucht, kommen häufig der Fahrer oder die Assistentin mit, und zeigen ihm den Weg zum Platz oder zum Rednerpult. Man merkt: Barrierefreiheit hat in der Stadt einen anderen Stellenwert bekommen.
Es gibt noch viel zu tun - auch in seiner eigenen Heimatstadt
„Für uns war das immer ein Thema“, sagt Gesche. So ist die Zuschauertribüne im örtlichen Fußballstadion mit einem Treppenlift ausgestattet, damit sie auch für Rollstuhlfahrer erreichbar ist. Auch das Rathaus wurde entsprechend umgebaut. Doch bis auch die Barrierefreiheit für Sehbehinderte erreicht ist, wird es noch etwas dauern. „Wir haben eine zweispurige Straße mit einer Fußgängerampel“, sagt Gesche. „Dort kann ich, wenn die Sonne auf die Ampel scheint, zum Beispiel nicht sehen, ob die Ampel rot oder grün zeigt.“ Helfen würde ein akustischer Signalgeber, wie er in Großstädten längst Standard ist. Doch die Straße in Burglengenfeld ist eine Staatsstraße, die vom Freistaat Bayern unterhalten werden muss. Was einen enormen bürokratischen Aufwand zur Folge hat. „Es reicht nicht aus, den Signalgeber zu installieren“, sagt Gesche. „Es müssen dann auch gleich noch taktile Steine im Boden eingebaut werden, und die Ampel muss verschoben werden.“ Doch das würde sich lohnen, ist Gesche überzeugt. „Es geht ja nicht nur um mich – ich komme zurecht“, sagt der Bürgermeister. „Aber durch meine Krankheit ist mir, ist aber auch vielen Anderen im Ort noch einmal bewusster geworden, wie es manchen Menschen geht – und es gibt ja auch Menschen, die wirklich komplett blind sind, und gar nichts mehr wahrnehmen.“ In Sachen Barrierefreiheit müsse deswegen auch in Burglengenfeld noch viel mehr getan werden.
Der Bürgermeister über den Schuldenstand der Stadt
Allerdings ist das nicht das einzige Problem, vor dem die frühere Residenz bayerischer Herzöge steht. Denn die Kommune ist hoch verschuldet: 2014, als der in Lauchhammer in Brandenburg geborene Politiker, der seit seinem vierten Lebensjahr in Burglengenfeld lebt, solide bayerisch spricht und seit vielen Jahren in der Stadtverwaltung tätig ist, den Posten des Bürgermeisters übernahm, hatte Burglengenfeld 58 Millionen Euro Schulden. Ein neues Gewerbegebiet, einige Unternehmensansiedlungen und die Erhöhung der Grundsteuer haben dazu beigetragen, dass es mittlerweile nur noch 41 Millionen Euro sind. Größtes Problem der Stadt freilich ist ein Spaßbad, das die Vorgänger von Gesche in Schweizer Franken finanziert haben. Allein 26 Millionen Euro betragen die Kredite, die die Stadt dafür aufgenommen hat. Und gleichzeitig hat die Stadt acht Millionen Euro zur Tilgung angespart, auf die man sogar Strafzinsen bezahlen muss, weil man sich in der Vergangenheit nicht einig werden konnte, wann der richtige Zeitpunkt sei, um das Geld in Schweizer Franken zu konvertieren. „Wir haben jetzt aber im Stadtrat einen Weg gefunden, um das Thema im Herbst noch einmal anzugehen“, sagt Thomas Gesche.
Was den Bürgermeister trotz solcher Schwierigkeiten an der Kommunalpolitik reizt? „Von meinem Vater, der 1990 aus Brandenburg zum Arbeiten nach Bayern kam, habe ich gelernt, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, in einem Staat zu leben, in dem es Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit gibt“, sagt Gesche. „Ich wollte mich deswegen für unsere Demokratie engagieren.“ Seit dem Jahr 2002 engagiert er sich kommunalpolitisch. Gemeinsam mit Anderen trat er an, um neuen Wind in die Stadtpolitik zu bringen. „Bundespolitik ist schön und wichtig, Landespolitik ist spannend – aber das Spannendste überhaupt ist die Kommunalpolitik: Denn damit kann ich etwas hier vor Ort, in Burglengenfeld bewegen.“