Ariane Berger, Leiterin Digitalisierung Deutscher Landkreistag
"Das OZG war ein Hau-Ruck-Verfahren", kritisiert Ariane Berger vom Deutschen Landkreistag.
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Onlinezugangsgesetz

"Das OZG überfordert die Kommunen!“

Woran hapert es beim Onlinezugangsgesetz (OZG)? Was funktioniert schon gut? Wie geht es weiter mit der Verwaltungsdigitalisierung? Ariane Berger, Leiterin Digitalisierung beim Deutschen Landkreistag, zieht im Gespräch mit KOMMUNAL eine kritische Bilanz der bisherigen Verfahren, warnt vor Kostenfallen und fordert mehr Transparenz über die Vorbereitung des nächsten Großprojekts, der Deutschen Verwaltungscloud.

KOMMUNAL: Frau Berger, wann war Ihnen klar, dass die zeitlichen Vorgaben im Onlinezugangsgesetz bis Ende 2022 nicht zu erfüllen sein werden?

Ariane Berger: Das war mir schon 2017 im Bundestag bei der Anhörung im Finanzausschuss klar, als es auch um das OZG ging.

Warum?

Weil man von vornherein merkte, dass es um eine „Türschwellengesetzgebung“ ging. Da versuchte der Bund, ein Großprojekt unter der Türschwelle der Reform des bundesstaatlichen Finanzausgleichs durchzuschieben. Der dafür zuständige Finanzausschuss war gar nicht technisch versiert genug, um dieses Vorhaben parlamentarisch zu bewerten. Das war ein Hau-Ruck-Verfahren. Wenn der Bund meint, die Länder in einer Sachfrage, die ein komplexes Zukunftsprojekt betrifft, überrumpeln zu müssen, fragt man sich, wie dieser Kooperationsprozess weiter gehen soll.

Das OZG war also eine typische „Wasserfallmodernisierung“, von oben nach unten?

Genau. Die Fachressorts der Länder und der IT-Planungsrat waren entsprechend überrascht. Das BMI wollte dann - und das ist positiv – ein neues Kooperationsformat finden und schaffte so genannte „Digitalisierungslabore“. Aber am Anfang waren die Kommunen darin noch nicht einmal vorgesehen! Wir haben interveniert und konnten später als kommunale Spitzenverbände unsere Experten in die Labore entsenden. Das ist nur leider in der Regel recht schnell versandet. Unsere Kommunalexperten forderten, auch das Backend, die Fachverfahren, anzugehen. Aber es war der politische Wille, sich erst einmal nur mit dem Frontend, der Antragsseite, zu beschäftigen. Der Blick wurde also zu schnell verengt, das ist der Webfehler des OZG und dieser rächt sich jetzt.

Man hat die Folgekosten für die Kommunen nicht ausreichend bedacht. Wie kam es dazu?

Das war der Folgefehler. Man wollte sich auf der Sachebene nicht mit den Kommunen auseinandersetzen und dementsprechend auch nicht über die Finanzierung der kommunalen Anpassungsaufwände sprechen. Nach dem Konnexitätsprinzip muss das Land eine Aufgabe, die sie auf die Kommune überträgt, auch finanzieren. Die verfassungsrechtlich schwierige Frage lautet: Was heißt denn „Aufgabenübertragung“? Die Länder haben zu den Kommunen gesagt: „Wenn wir euch verpflichten, das OZG umzusetzen, ist das keine Aufgabenübertragung! Ihr bekommt kein Geld von uns!“ Die Kommunen haben geantwortet: „Doch!“ Danach hat man lange nicht weitergesprochen. Erst jetzt sucht man nach einer Verhandlungslösung.

Welche Folgekosten laufen denn beispielsweise für ein Online-Antragsverfahren auf?

Wir sehen jetzt erste Rechnungen der IT-Dienstleister. Nehmen wir an, das ist alles vernünftig und kaufmännisch kalkuliert. Dann sehen Sie, dass die Dienstleister pro Leistungsbündel Jahressummen von 2.000 bis 4.000 Euro für den Betrieb dieser Leistung aufrufen, pro Gemeinde oder Landkreis. Wenn Sie das hochrechnen auf die 575 OZG-Leistungen, kommen Sie auf Millionenbeträge pro Jahr! Plus die Schnittstellenanpassungen aus den Verträgen mit den Fachverfahrensherstellern, die noch nicht in dieser Rechnung enthalten sind. Das überfordert die Kommunen! Es muss viel, viel günstiger werden. Wir brauchen Rahmenverträge für alle Kommunen - jedenfalls für alle Kommunen in einem Land - und wir müssen jetzt verhindern, dass jede Kommune einzeln verhandelt und einzeln zahlt Darüber hinaus werden wir um eine Anpassung der Finanzausgleichsgesetze und eine Erhöhung der Finanzausgleichsmasse zugunsten der Kommunen nicht drum herumkommen.

Auch die Services aus dem „Einer-für-Alle“-Prinzip (EfA) haben gepfefferte Preise. Teilweise sind sie teurer, als wenn die Kommune sie von einem Privaten gekauft hätte. Wie gehen Sie damit um? 

Wir sind als Kommunen zum Warten verdammt. Das liegt an der Landesgesetzgebung und der Entscheidung, das OZG mit den Produkten eines öffentlichen, in der Regel Landes-IT-Dienstleisters, umzusetzen. Deshalb können wir nicht vorpreschen und das günstigere Produkt eines privaten Anbieters kaufen. Trotz der Qualität und Leistungsfähigkeit öffentlicher IT-Dienstleister, die hier nicht bestritten werden sollen: Man hat öffentliche Monopole geschaffen, die jetzt auch refinanziert werden müssen. Das ist gefährlich und teuer. Außerdem wollen in einem EfA-Verbund zwischen verschiedenen Landes- und kommunalen IT-Dienstleistern und den Fachverfahrensherstellern mehrere verdienen, was die Preise zusätzlich in die Höhe treiben dürfte.

Was ist Ihr Vorschlag?

Die Länder haben in der jetzigen Situation folgende Möglichkeiten: Entweder sie akzeptieren die Summen, die von ihren Landes-IT-Dienstleistern aufgerufen werden und stellen den Kommunen im Rahmen des Finanzausgleichs mehr Geld zur Verfügung. Oder sie sagen: „Lieber Landes-IT-Dienstleister, das ist zu teuer, du musst ein anderes Preis-Modell aufrufen.“ Oder man sagt eben: „Dann schaffen wir mal Wettbewerb und öffnen den zukünftigen EfA-Marktplatz für Drittleistungen.“ Wettbewerb ist hier der Königsweg!

Außer Wettbewerb fordern Sie auch viel mehr Standardisierung auf allen Ebenen. Wo fehlen diese Standards denn?

Es macht Sinn, sich bei den Basiskomponenten wie Identifizierung und Payment sowie bei bestimmten Datenaustauschstandards über einheitliche Regeln zu verständigen. Hier kann man vieles einheitlich „vor die Klammer ziehen“, was alle brauchen und allen nützt. Dafür ist der IT-Planungsrat da - und da kommen wir viel zu langsam voran. Wir brauchen eine Reform des IT-Planungsrates, mehr technische Fachexpertise und kommunales Vollzugswissen, mehr Verbindlichkeit und einen starken Fokus auf Standardisierung. Der IT-Planungsrat ist nicht dafür da, die Wettbewerbsinteressen öffentlicher IT-Dienstleister umzusetzen, sondern als Gremium der staatlichen und kommunalen öffentlichen Auftraggeber so viel Harmonisierung wie nötig und so viel Standardisierung wie möglich umzusetzen.

Woran liegt es, dass man in diesen zentralen Fragen nicht vorankommt?

Es ist ein Ursachenmix. Man hat da nicht hingeguckt und gesagt, wir machen mal nur das Frontend und kümmern uns später um die Standards und Schnittstellen. Bei den Basiskomponenten, wie Nutzerkonten und Payment, geht es um knallharte industriepolitische Erwägungen: Wer setzt sich durch? Auch bei den Datenaustauschregeln geht es um wettbewerbspolitische Interessen der öffentlichen IT-Dienstleister. Da sind Politik und öffentlicher Auftraggeber gefragt, zu entscheiden. Aber bisher lassen wir uns als öffentliche Auftraggeber zu stark treiben von den Unternehmen, in deren Verwaltungsräten wir sitzen.

Wo gibt es nach Ihrer Ansicht die steilsten Lernkurven, die das OZG zur Verwaltungsdigitalisierung mit sich gebracht hat?

Wir alle haben gelernt, dass man bei komplexen Innovationsthemen neue Formate braucht, um Vollzug gut zu gestalten. Dass es nicht mehr reicht, ein Bundesgesetz zu erlassen, das den Ländern zur Ausführung übertragen wird, ohne beim Design des Bundesgesetzes bereits die im Ergebnis kommunalen Vollzugsszenarien mitzudenken. Dieses Wasserfallmodell, was das Grundgesetz als Regelmodell vorsieht, passt nicht mehr zur heutigen Komplexität! Wir müssen Rechtsetzung agil betreiben und die Kommunen, die Vollzugsebene, in den Rechtssetzungsprozess einbeziehen. Und wir brauchen Laborformate, um schon auf der Ministerialebene, auf der Rechtserzeugungsebene, im Zusammenspiel mit der kommunalen Vollzugsebene herauszufinden, wie der Vollzug sinnvollerweise zu gestalten ist.

Es ist aber beim OZG auch nicht alles schlecht! Reden wir über das, was gut funktioniert hat. Welche Faktoren tragen grundsätzlich dazu bei, dass ein digitales Verfahren im OZG-Prozess gut klappt?

Ein digitales Verfahren ist dann erfolgreich, wenn die Backend-Anbindung klappt. Hier ist die Schnittstelle zu den Fachverfahren entscheidend und hier sind die Länder als Anbieter der Frontend-Dienstleistung auf Kooperation mit den jeweiligen Fachverfahrensherstellern angewiesen. Geklärt werden muss dann auch die Frage, wer die Kosten für die Anpassung dieser Schnittstellen übernimmt. Die Kommunen erwarten hier sachangemessene Lösungen mit Augenmaß. Denn es ist ja ganz einfach: Ist die Leistung zu teuer, wird sie in den Kommunen nicht zum Einsatz kommen.

Eine gute Idee für die Gestaltung der häufig problematischen Schnittstelle zwischen Anträgen und Fachverfahren sieht man bei „Bauen Online“.

Ja, an „Bauen Online“ sind unsere Landkreise sehr interessiert. Mecklenburg-Vorpommern ist da federführend. Dort hat man das Problem mit den Schnittstellen etwas anders gelöst und ein Antragsverfahren geschaffen, das perspektivisch nicht mehr an Fachverfahren angebunden sein muss. Sie kreieren stattdessen einen „Vorhabensraum“, in den die Architekten, Bauherren und Bauaufsichtsbehörden unmittelbar „hineinschreiben“ können.

Gibt es weitere gute Lösungen für das Schnittstellenproblem?

Ja, die Low Code-Plattformen sehe ich perspektivisch ebenfalls als Game Changer. Da geht es um eine Entwicklungsumgebung für Software, die die Entwicklung mit visuellen und grafischen Werkzeugen ermöglicht, anstatt klassische textbasierte Programmiersprachen zu verwenden. Dort können Anträge, Schnittstellen und die Fachverfahren benutzerfreundlich und sehr modular gestaltet werden. So kann auch ein Kreismitarbeiter, der für IT verantwortlich ist und sich diese neue Form der Softwaregestaltung zutraut, selbst einmal probieren und möglicherweise sogar selbst medienbruchfreie Prozesse entwerfen. Das sind sehr modulare Systeme, wo man sich wie ein Programmierer fühlt, aber es nicht mehr bzw. zumindest nicht mehr im klassischen Sinne ist. Wir schauen uns außerdem einen so genannten Schnittstellenroboter an, der es einem Sachbearbeiter erspart, Daten aus dem Antragsverfahren in das Fachverfahren händisch einzutippen. Das ist eine Software, welche die Daten automatisiert aus den Anträgen in die Fachverfahren überträgt, eine echte Überbrückungstechnologie! Das wird vom Bayerischen Landkreistag bereits erfolgreich erprobt.

Sehr innovativ scheint mir Letzteres ja eher nicht. Aber zu einer anderen Frage: Zurzeit gibt es eine rege Diskussion um ein „OZG 2.0“. Ist ein Folgegesetz für die Kommunen nötig, um die Verwaltungsdigitalisierung weiter zu forcieren?

Ich habe Zweifel daran, das OZG zum Anker einer Neuregelung für den Digitalisierungsprozess in der Verwaltung zu machen. Wenn der Bundesgesetzgeber etwas regeln möchte, tut er gut daran, die Schriftformerfordernisse zu reformieren und eine Lösung für die Nutzung des Online-Ausweises zu schaffen. Bürger benötigen eine digitale Identität. Eine solche digitale Identität muss sich in das Projekt Registermodernisierung einfügen und datensicher sowie datenschutzkonform sein, damit zukünftig keine Behörde mehr sagt, sie brauche das jeweilige Dokument jetzt handschriftlich unterschrieben.

Aber für die weitere Verwaltungsdigitalisierung brauchen Sie kein neues Gesetz?

Nein, ich als Kommunalvertreter brauche kein OZG 2.0. Ich brauche jetzt eine vernünftige Priorisierung: Welche Prozesse wollen wir in welchem Zeitraum umsetzen? Was soll es kosten und wie teilen wir uns die Kosten angemessen auf? Das braucht eine Verhandlungslösung und im Ergebnis eine angemessene Finanzausstattung der Kommunen

Inzwischen steht das nächste Großprojekt bevor: Die „Deutsche Verwaltungscloud“ soll kommen. Haben Bund und Länder ihre Lektionen gelernt? Läuft es für die Kommunen bisher besser?

Ich scheue mich bislang zu sagen, es ist alles genauso schlimm wie beim OZG. Das ist ein riesiges, industriepolitisches Projekt, in dem Standortfragen und Fragen der digitalen Souveränität eine zentrale Rolle spielen. Der IT-Planungsrat hat bislang leider kein vollständiges Bild über die Gespräche, die der Bund derzeit mit verschiedenen, internationalen IT-Unternehmen über eine zukünftige Deutsche Verwaltungscloud führt. Deswegen sprechen wir als Deutscher Landkreistag selbst mit Akteuren und versuchen, die kommunalen Bedarfe an eine solche so genannte Multi Cloud-Struktur zu definieren. Anders als im OZG-Prozess müssen die kommunalen Bedarfe von Anfang an erster Stelle stehen. Die Kommunen befüllen die Verwaltungscloud der Zukunft, wir sind der Lösungsraum, der digital verfügbar sein soll. Aber es ist aktuell ein unübersichtliches Feld. Es braucht mehr Transparenz und die Verhandlungshoheit des IT-Planungsrates! Das für die Deutsche Verwaltungscloud-Strategie verantwortliche Gremium muss wissen, wer auf Bundesseite mit wem worüber verhandelt. Und nicht zuletzt erwarte ich, dass der Bund aus dem missglückten OZG-Prozess gelernt hat und die Cloud-Architektur der Zukunft nutzerzentriert designt – und die Nutzer sind nun einmal die Kommunen!