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Warum die SPD in großen Städten verliert
Ursache für den Vertrauensschwund dürfte nicht der von manchen dafür verantwortlich gemachte Kommunikationsstil des Kanzlers oder seine als nicht zureichend bewertete Führungsstärke sein, sondern der seit längerem zu beobachtende Zustand der Partei SPD insgesamt. Die Winkel-Analytiker in der SPD könnten den Vertrauensschwund mit dem Hinweis darauf verharmlosen, dass der Anteil der Wähler der Union zwischen der ersten Bundestagswahl in der Nach-Adenauer-Ära 1965 und der letzten Bundestagswahl 2021 stärker zurückgegangen sei (ein Schwund von 55 Prozent) als der der SPD im gleichen Zeitraum (minus 41 Prozent).
Vertrauen zu SPD in Großstädten schwindet
Die andauernde Schwäche der Partei hat aber viel zu tun mit dem Verlust ihrer einstigen starken Verankerung in der Wählerschaft der urbanen Metropolen - den Prägestöcken der Gesellschaft von Morgen. Das Vertrauen zur SPD in den Großstädten der alten Bundesrepublik mit mehr als 500.000 Einwohnern hatte den Grundstein für ihre späteren Vertrauensgewinne auch auf der Ebene der Landes- und dann der Bundespolitik gelegt.
Bei den Kommunalwahlen zwischen den Jahren 1964 und 1968 wurde die SPD in den urbanen Metropolen von fast 40 Prozent aller Wahlberechtigten gewählt. Bei den Kommunalwahlen seit 2019 waren es nur noch 10 Prozent; die SPD hat somit in ihren früheren Hochburgen rund drei Viertel ihres einstigen Wählerpotentials eingebüßt. In der Summe der urbanen Metropolen wurde die Union bei den letzten Kommunalwahlen von mehr Wählern gewählt (11,9 Prozent aller Wahlberechtigten) als die einstige Großstadtpartei SPD (10,1 Prozent). Und noch größer als der Anteil der CDU beziehungsweise CSU und der SPD war der Anteil der grünen Wähler (12,3 Prozent). Die stärkste Wählergruppe aber wurde die „Partei der Nichtwähler“ (fast 50 Prozent aller Wahlberechtigten).
Stärkste politische Kraft blieb die SPD mit extrem niedrigen Anteilen von 14 beziehungsweise 11,9 Prozent (bezogen auf alle Wahlberechtigten) nur noch in zwei der 12 urbanen Metropolen (Dortmund und Duisburg). In vier der 12 größten Städte war die SPD zweitstärkste und in 4 weiteren nur drittstärkste Partei. In Leipzig lag die SPD hinter den Linken, den Grünen und der CDU nur auf Rang 4 und in Dresden erhielten sogar vier Parteien (Grüne, AfD, Linke und CDU) mehr Stimmen als die Sozialdemokraten.
SPD verliert auf kommunaler Ebene
Die SPD besaß aber einstmals nicht nur in den urbanen Metropolen, sondern vielerorts bei Kommunalwahlen großes Vertrauen bei den Wählern. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel erhielt sie in den 1950er und 1960er Jahren im damals noch stark von der CDU geprägten Land mehr Stimmen als die im Land und Bund regierenden Christdemokraten. Doch das änderte sich wie in vielen anderen Bundesländern ab Mitte der 1970er Jahre: Die SPD büßte ihre Dominanz auf der kommunalen Politikebene zunehmend ein. Bei der letzten Kommunalwahl an Rhein und Ruhr gaben ihr nur noch 12 von 100 Wahlberechtigten ihre Stimme – im Vergleich zur Kommunalwahl von 1964 ein Schwund der Wählersubstanz von 64 Prozent.
Wegen des Vertrauensvakuums der SPD hat bei Kommunalwahlen auch in Nordrhein-Westfalen die Zahl der Wähler anderer Parteien stark zugenommen – deren Wähleranteil hat sich zwischen 1964 und 2020 fast verdreifacht (von 7,7 auf 21,3 Prozent der Wahlberechtigten). Ebenfalls stark angestiegen ist in dieser Zeit die Zahl der Nichtwähler – von 25,4 auf zuletzt 48,8 Prozent. Als Gründe für diese Vertrauensverluste geben die hierzu in NRW befragten Bürger an, die SPD wisse nicht mehr, was die Menschen im Land bewegt und besorgt, sie kümmere sich zu sehr um die Interessen von Minderheiten und vernachlässige die Interessen der großen Mehrheit der Menschen. Zudem habe die Partei keine guten Politiker mehr.
In der Tat begann die Entfremdung der SPD von ihrer einstmaligen Wählerschaft, als die SPD sich nicht mehr an den Bedürfnissen der Mehrheit ihrer Wähler orientierte, sondern überwiegend an den ideologischen Dogmen der sich durch den Mitgliederschub nach dem Regierungswechsel 1969 neu formierenden SPD-Funktionärskader. Deren verbaler Radikalismus entfremdete die SPD nicht nur von ihren angestammten Wählern aus der Arbeiterschaft, sondern verprellte auch die nach der Verabschiedung des Godesberger Programms neu gewonnenen Wähler aus der Mitte der Gesellschaft. Und die im Zuge des damaligen Wertewandels entstandene neue Schicht der besser gebildeten, überwiegend aus wohlhabenden Elternhäusern entstammenden „Postmaterialisten“, für die nicht mehr die materielle Versorgung und Absicherung wichtig war, schloss sich direkt der sich formierenden grünen Bewegung an.
Durch den vor allem von Erhard Eppler eingeleiteten und bis heute andauernden Anbiederungskurs weiter Teile der auch eher postmaterialistischen Wertmustern anhängenden Führungskader der SPD an die Grünen entstand ein Wählervakuum, das die grüne Partei bis heute konsequent nutzt. Und auch das trotz des knappen Wahlsiegs von 2021 fortbestehende Vertrauensvakuum der SPD beruht auf einer immer noch zu starken Anbiederung an die politischen Positionen der Grünen, die von den potentiellen SPD-Wählern nicht gebilligt wird. So finden nur 28 Prozent aller Bundesbürger und auch nur 40 Prozent der SPD-Anhänger, aber eine Mehrheit von 65 Prozent der Anhänger der Grünen die Abschaltung aller Kernkraftwerke richtig. Und auch ein Verbot des Einbaus neuer Öl- und Gasheizungen findet nur eine Mehrheit der Grünen-Anhänger richtig, während die Mehrheit aller Bürger und der SPD-Anhänger gegen ein Verbot ist. Für die Aktionen der so genannten „Klima-Aktivisten“ haben nur 20 Prozent aller Bürger und 24 Prozent der SPD-Anhänger Verständnis, aber 52 Prozent der Sympathisanten der Grünen. Und Schadenersatzforderungen gegen die Klimaaktivisten befürworten rund zwei Drittel der Bürger insgesamt und der SPD-Anhänger, aber nur rund ein Viertel der Anhänger der Grünen.
Solange die SPD sich weiterhin eher an den politischen Vorstellungen der Grünen orientiert und die Interessen ihrer potentiellen Wähler außer Acht lässt, kann sie nicht damit rechnen, wieder mehr Vertrauen bei den Wählern zu gewinnen als heute. Und das bewirkt gerade in den Kommunen ein Vertrauensvakuum, das zu einer weiteren Zersplitterung des Parteiensystems und zu einem Anstieg der Zahl der Nichtwähler führt.