
Gesundheitswesen
Deutschlands Gesundheitssystem auf Kriegsfall nicht vorbereitet
Von einem „freundlichen Desinteresse der Deutschen an der Bundeswehr“ sprach der damalige Bundespräsident Horst Köhler bei der Kommandeurstagung zum 50. Geburtstag der Bundeswehr im Jahr 2005. Weitere 20 Jahre später spielen Fragen wie die Ausstattung unserer Soldaten und die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes eine zentrale Rolle. Auffällig ist in den Wahlprogrammen der Parteien das Fehlen eines Begriffs: „Zivilverteidigung“ beziehungsweise. „Gesamtverteidigung“. Gemeint ist die Summe aller militärischer und ziviler Verteidigungsaktivitäten, die ein enges Zusammenwirken voraussetzt. Alle relevanten Akteure aus Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich bereits im Vorfeld des Ernstfalls gemeinsam vorbereiten und vernetzen.
Im Nato-Bündnisfall nicht bereit
Drei Jahre nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine bereitet sich die Nato heute auf ein mögliches Szenario in drei Jahren vor: einen Überfall auf die baltischen Staaten. Artikel 5 des Nato-Vertrags, wonach jeder Angriff auf ein Mitgliedsland als Angriff auf alle Bündnispartner verstanden wird, würde erstmals Anwendung auch für Deutschland finden. Deutschland kommt im NATO-Bündnisfall eine völlig andere Rolle zu als in den Verteidigungsplanungen im Kalten Krieg vor 1989. Wir wären im Bündnisfall nicht mehr Frontstaat, sondern logistische Drehscheibe für mehr als 750.000 Soldaten. Bis zu 3.000 verwundete Soldaten müssten zu Beginn täglich in Deutschland versorgt werden. Zur nationalen Nabe im Rad würde Berlin mit den Maximalversorgern Charité, Bundeswehrkrankenhaus, Unfallkrankenhaus und Vivantes.
Nach zwei Tagen im Ernstfall am Limit
Der Expertenrat der Bundesregierung und Vertreter aus Ärzteverbänden und der Politik sind sich einig: Deutschland ist mit seinem Gesundheitssystem auf das beschriebene Szenario nicht vorbereitet. Die fünf Bundeswehrkrankenhäuser mit den eng kooperierenden neun BG-Unfallkliniken und 20 vorgesehenen Universitätskliniken wären innerhalb von 48 Stunden ausgelastet. Nach zwei Tagen wäre das deutsche Gesundheitssystem im Ernstfall am Limit. Das Konzept der Gesundheitssicherheit fristet in Deutschland seit Ende des Kalten Krieges ein Schattendasein. Ihr Ziel ist, dass das Gesundheitssystem Krisen bis hin zu militärischen oder hybriden Konflikten, Attentate wie in Magdeburg, Cyberattacken, Unfälle und Umweltkatastrophen übersteht und unter krisenhaften Bedingungen weiter funktionieren kann, um eine ausreichende Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.
Um die zunehmenden Herausforderungen für den Bevölkerungsschutz und die zivile Verteidigung zu bewältigen, muss auch Deutschland krisenfester und widerstandsfähiger werden. Vor 1989 gab es nur Null oder Eins, Frieden oder Krieg. Heute, mehr als eine Generation später, liegt eine lange Liste hybrider Bedrohungen dazwischen. Zwar sind wir formaljuristisch nicht im Krieg, aber wir befinden uns auch schon lange nicht mehr im Frieden. Unsere Bündnispartner und Nachbarn und auch wir werden täglich bedroht und auch attackiert durch Hacker- und Cyberangriffe im Netz, auf Versorgungskabel in der Ostsee oder durch gezielte Flugzeugattentate. Nur als Ganzes kann eine Gesellschaft wehrfähig werden. Schweden mit seinem Konzept der „Totalverteidigung“ kann uns dabei ein Vorbild sein. Alle Bürgerinnen und Bürger zwischen 16 und 70 Jahren sowie alle Behörden, Städte und Gemeinden sind in die Verteidigung eingebunden.
Plan für nationale Patientensteuerung wird erstellt
Eine bessere Zusammenarbeit von zivilen Gesundheitseinrichtungen, Hilfsorganisationen, Bevölkerungsschutz und Bundeswehr ist daher das Top-Thema für die nächsten beiden Jahre. Militärmedizin und ziviles Gesundheitssystem haben sich weitgehend entfremdet. Das zum 1. Oktober vorigen Jahres errichtete Operative Führungskommando der Bundeswehr erstellt derzeit in Zusammenarbeit mit dem Zentralen Sanitätsdienst der Bundeswehr und weiteren Akteuren in der Gesundheitsversorgung einen Plan für eine nationale Patientensteuerung im Bündnis- und Verteidigungsfall.
Die Kernidee: Ähnlich wie bei dem regional unterschiedlichen Patientenaufkommen in der Coronavirus-Pandemie werden die Patienten durch regionale „Hubs“ nach vorher abgestimmten Grundsätzen verteilt, um so die bestmögliche Nutzung der zur Verfügung stehenden Behandlungskapazitäten zu erreichen. Bund, Ländern und Kommunen sowie allen anderen Trägern des zivilen Gesundheitssystems kommt dabei eine wesentliche Rolle zu und müssen eingebunden werden. Wie, definiert der neue „Operationsplan Deutschland“. Der OPLAN DEU koordiniert die zivil-militärische Zusammenarbeit und steuert ressortübergreifend den Bedarf an zusätzlicher Unterstützung auch aus dem zivilen Gesundheitssystem.
Deutschland müsste den größten Anteil des Aufmarschs der alliierten Kräfte durch bzw. über Deutschland so sicherstellen, dass diese Kräfte zeitgerecht und einsatzbereit an der Nato-Ostflanke ihren Auftrag zur Abschreckung und nötigenfalls zur Verteidigung leisten können. Sichergestellt werden muss unter anderem auch der Schutz kritischer beziehungsweise verteidigungswichtiger Infrastrukturen wie die Versorgung mit Energie, Lebensmitteln und Gesundheit im Rahmen der Gesamtverteidigung sichergestellt werden.
Dr. Daniel Dettling ist Geschäftsführer von Gesundheitsstadt Berlin e.V.
Kritische Infrastrukturen sind lange vor einem Bündnisfall Ziel von Angriffen. Dabei sind Krankenhäuser ein besonders „beliebtes“ Ziel. Einen erheblichen Beitrag zur Gesamtverteidigung und zum Bevölkerungsschutz leisten dabei die sogenannten Blaulicht- und Hilfsorganisationen wie das Technische Hilfswerk, das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter Unfallhilfe und der Malteser Hilfsdienst.
Kriegs- und krisenfestes Gesundheitssystem gefordert
Der Expertenrat der Bundesregierung hat kurz vor Weihnachten 2024 in einer Stellungnahme ein „kriegs- und krisenfestes Gesundheitssystem“ gefordert und sich für eine „deutlich verbesserte, strukturierte zivil-militärische Zusammenarbeit“ ausgesprochen. Bündnisverteidigung und Gesundheitssicherheit müssen, so der Rat, zusammen gedacht werden. Konkret sprechen sich die Expertinnen für die Ausbildung einer personellen Reserve im Krisenfall, die Bevorratung für Material, Arzneimittel und Medizinprodukte, regelmäßige gemeinsame Übungen ziviler und militärischer Akteure, die Ertüchtigung ziviler Gesundheitsstrukturen und Kliniken der Maximalversorgung und eine ständige Risikokommunikation unter Einbindung der Bevölkerung aus.
Prof. Dr. Axel Ekkernkamp, Ärztlicher Direktor des Unfallkrankenhauses Berlin und Mitglied des Wehrmedizinischen Beirats des Bundesverteidigungsministers.
Im Fall einer nationalen Krise muss es schnell gehen. Informationsverluste, langwierige Abstimmungen und unklare Zuständigkeiten kosten Zeit und Leben. 20 Jahre nach der erwähnten Rede des Bundespräsidenten hat die Zeitenwende die Deutschen erreicht. Die Bündnisverteidigung und Unterstützung Verbündeter wird heute von mindestens zwei Dritteln der Bürger befürwortet. Eine neue Bundesregierung hätte mit einer Neukonzeption der Gesamtverteidigung unter Einbindung des zivilen Sektors einen Großteil der Bevölkerung hinter sich. „Eine Zeitenwende für das Gesundheitswesen“ und ein „Gesundheitssicherstellungs-Gesetz“ hat der noch amtierende Bundesgesundheitsminister bereits im Frühjahr 2024 angekündigt. 2025 ist es höchste Zeit.