Hat die deutsche Verwaltung die Flüchtlingskrise nicht mehr im Griff? ©Sebastiano Fancellu/fotolia

Kippt die Stimmung?

Hunderttausende unregistrierte Flüchtlinge, eine Politik die über Integration und Aufnahmezahlen streitet - hat die deutsche Verwaltung die Flüchtlingskrise nicht mehr im Griff? Christian Erhardt-Maciejewski im KOMMUNAL-Doppelinterview mit dem Bundesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt und DStGB-Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg.

KOMMUNAL: Bis zu 200.000 Menschen in Flüchtlingsunterkünften, die nicht registriert sind, eine Politik die über Integration und Aufnahmezahlen streitet – hat die deutsche Verwaltung die Flüchtlingskrise nicht mehr im Griff?

Rainer Wendt

Wendt: Angesichts der immensen Herausforderung, die uns der Flüchtlingszustrom beschert, stehen Politik, Gesellschaft und Verwaltung vor beispiellosen Aufgaben. Nachdem die Politik lange gezögert hat, schnelle und wegweisende Maßnahmen zu ergreifen, erkennt sie mittlerweile die Notwendigkeit einer stringenten Flüchtlingspolitik an. Die muss aus dem Dreiklang Registrierung aller hier ankommenden Flüchtlinge, Integration und im Zweifel schnelle Abschiebung der abgelehnten Asylbewerber bestehen. Ich denke die Verantwortlichen haben den Ernst der Lage spät, aber nicht zu spät erkannt.
Landsberg: Alle staatlichen Ebenen sind von der immens hohen Zahl an Flüchtlingen überrascht worden. Ich erinnere daran, dass die Schätzungen noch zu Jahresbeginn von 250.000 Flüchtlingen ausgegangen sind. Die Verwaltungen tun alles was möglich ist, aber die Geschwindigkeit des Zustroms ist derzeit schlicht zu hoch. Daher ist es umso wichtiger, dass wir alles tun, um den Zustrom zu begrenzen und wieder zu geordneten Verhältnissen zurückkehren können.
Es mehren sich auch die Anschläge auf Asylbewerberheime – können Polizei und Kommunen die Sicherheit noch gewährleisten?
Gerd Landsberg

Landsberg: Wir müssen alles tun, um zu verhindern dass die Stimmung kippt. Dazu gehört aber auch das Eingeständnis, dass die Kommunen vielfach bereits die Belastungsgrenze überschritten haben. Wir brauchen eine Atempause, auch um den Menschen wieder das Gefühl zu geben, dass wir die Situation im Griff haben.
Wendt: Polizei und Kommunen sind grundsätzlich beim Thema Sicherheit auf eine enge Zusammenarbeit angewiesen. Wir schlagen deshalb vor, für jede Flüchtlingseinrichtung ein Sicherheitskonzept zu entwickeln, das alle maßgeblichen Daten und Informationen in Bezug auf Unterkunft, ihrer Belegung, der personellen Besetzung sowie geeignete Schutz- und Präventionsmaßnahmen beinhaltet. Kommunale Behörden sollten sich permanent mit Polizei und Feuerwehr abstimmen, um in kritischen Momenten schnell reagieren zu können.
Es gibt immer wieder auch Gewalttaten in den Einrichtungen selbst – Stichwort: Überbelegung, Arbeitsverbote, Frustration – schürt das nicht die Angst vieler Menschen zusätzlich und was kann vor Ort dagegen getan werden?
Wendt: Solche Meldungen über Auseinandersetzungen in Flüchtlingsheimen gibt es leider immer wieder. Den Menschen in unserem Land bereitet das natürlich Sorgen. Es ist jedoch illusorisch anzunehmen, dass wir mit ausreichend Polizeikräften permanent in allen Unterkünften präsent sein können. Das wäre zwar wünschenswert, weil Polizistinnen und Polizisten auch über eine hohe interkulturelle Kompetenz verfügen und auch über die Sensibilität, in Situationen, in denen droht, sich etwas aufzuschaukeln, schnell genug einzugreifen und deeskalierend tätig zu werden. Aber das Personal hat die Polizei einfach nicht. Deshalb müssen wir auf private Sicherheitsunternehmen zurückgreifen, deren Mitarbeiter besonders geschult sind. Die sind zwar rar und teuer. Aber es ist wichtig, bei der Auswahl von Sicherheitsunternehmen, die direkt mit Menschen zu tun haben, dass nicht der Preis im Vordergrund steht, sondern die Qualität der Beschäftigten.
Landsberg: Wir haben in diesem Jahr leider schon über 500 derartige Übergriffe zu verzeichnen. Kommunen und Polizei machen gute Arbeit. Dennoch können wir nicht alle Unterkünfte so schützen, wie es wünschenswert wäre. Zur Wahrheit gehört, dass gerade die Polizei, aber auch die Kommunen, mehr Personal benötigen, um den gestiegenen Anforderungen gerecht werden zu können.
Gibt es denn bei den Flüchtlingen verschiedene „Risikogruppen“? Ist etwa „Gewalt gegen Frauen“ ein Thema?
Landsberg: Wir haben es mit verschiedenen Ethnien und teilweise unterschiedlichen religiösen Ausprägungen zu tun. Umso wichtiger ist es, den zu uns kommenden Menschen unsere Grundwerte zu vermitteln: Religions- und Meinungsfreiheit etwa oder auch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen.
Wendt: Uns erreichen immer wieder Informationen über sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Flüchtlingsunterkünften. Der Staat muss darauf reagieren und klarstellen, welche Werte und Regeln in unserem Land gelten. Besonders schutzbedürftige Gruppen müssen unter einen besonderen Schutz gestellt werden. Das sind Frauen, besonders Alleinreisende, aber auch Familien mit Kindern.
Im Umgang mit dem Thema sind nicht nur Kommunen sondern auch Medien durchaus verunsichert – so gibt es Behauptungen, die Nationalität von Tätern würde bewusst von Polizei und Bürgermeistern zurückgehalten – ist das so und welcher Umgang wäre sinnvoll?
Landsberg: Diese Behauptungen kann ich nicht bestätigen. Sinnvoll ist sicherlich, die Probleme klar zu benennen – egal ob es sich nun um Gewalt innerhalb von Unterkünften oder um Angriffe auf Flüchtlinge oder ihre Unterkünfte handelt. Nur mit Ehrlichkeit werden wir erreichen, dass die vor uns liegenden Aufgaben erkannt und gelöst werden.
Wendt: Ehrlichkeit ist da in der Tat wichtig. Deshalb begrüßen wir alle Bemühungen, zu belastbaren Lagebildern zu kommen, damit Gerüchten entgegengetreten werden kann und vor Ort gezielte Strategien entwickelt werden, um auffälligen Entwicklungen bei Straftaten entgegenzuwirken.
Im Rahmen der Debatte geraten auch Kommunalpolitiker immer wieder ins Visier von Rechtsextremisten – es gibt Drohungen, Politiker-Stalking – wie sollen sich diese Menschen verhalten und was könnte die Politik tun?
Wendt: Derart verabscheuenswürdigen Taten wie der Messerangriff auf die Oberbürgermeisterkandidatin in Köln müssen wir dringend entgegentreten. Es fängt damit an, dass in den sozialen Netzwerken teilweise hemmungslos gehetzt und gedroht wird. Hier sollte der Gesetzgeber im Zuge der Anpassung der Straftatbestände klarstellen, dass jede Form der Hasskriminalität im Netz ebenfalls strafbar ist. Politiker benötigen auf jeden Fall Schutz. Ohne sie wäre das politische Engagement vor Ort als Wesenskern unserer Demokratie gefährdet.
Landsberg: Drohungen und Einschüchterungsversuche sind leider keine Seltenheit mehr. Daher fordern wir auch, das Strafgesetzbuch um den Tatbestand des „Politiker-Stalking“ zu erweitern, um diesen Dingen wirksam begegnen zu können.
Ihre Prognose: Wie werden wir in einem Jahr über die Flüchtlingspolitik reden? Wie sehr verändert die jetzige Herausforderung Politik und Gesellschaft?
Landsberg: Das kommt darauf an, ob es uns gelingt, jetzt die richtigen Weichen zu stellen. Wir brauchen Maßnahmen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Wenn wir es schaffen, den Zustrom zu begrenzen, uns intensiv um Integration bemühen und diese auch einfordern, dann kann die derzeitige Situation bewältigt werden.
Wendt: Über die Lageentwicklung würde ich nicht mal für die nächsten zwei Wochen eine Prognose abgeben. Die Gesellschaft wird sich massiv verändern und alle gesellschaftlichen Kräfte sind aufgerufen, negative Auswirkungen der Wanderungsbewegungen zu bekämpfen. Ich wünschte mir eine größere Beteiligung des Deutschen Bundestages. Die höchste deutsche Volksvertretung tut im Moment leider so als ginge sie das alles nichts an.

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