Bürgerbeteiligung ja- aber die Herzkammer der Demokratie bleiben die Stadtparlamente, meint Christian Erhardt

Bürgerbeteiligung

„Schwarmintelligenz“ statt „Herdenblödheit“ nutzen

Kommunen testen neue Formen der Bürgerbeteiligung – Wuppertal beteiligt seine Bürger etwa per Losverfahren. „Ein Querschnitt, der informiert ist agiert vernünftiger als eine ganze Gesellschaft, die nicht informiert ist“, meint Christian Erhardt.

Im Jahr 2010 beteiligten sich rund 110.000 Menschen an einer Petition an den Deutschen Bundestag. Sie hatte ein Verbot von Kräuter-Heilmitteln in der EU zum Thema. Das einzige Problem an der erfolgreichen Eingabe: Die in der Petition zitierte EU-Richtlinie gab es gar nicht. Die Initiatorin erklärte später, sie habe „über das Problem auf Internetseiten gelesen, die die Wahrheit schreiben“. Haben sich die 110.000 Unterstützer also nicht einmal die Mühe gemacht, nach der angeblichen Richtlinie zu googeln? Es scheint, als gingen viele Menschen mit direkter Demokratie recht unreflektiert um. Für mich zeigt das Beispiel vor allem, dass direkte Demokratie eben weit mehr ist als nur ein Kreuzchen bei Ja oder Nein zu machen. Direkte Demokratie setzt vor allem Information voraus. Stuttgart 21 und Co haben uns zudem gezeigt, dass eine bloße Volksabstimmung zu einem Thema die Kritiker nicht verstummen lässt. Werden Bürger gefragt und die Mehrheit entscheidet anders, als der eigene Wille, so gehen die Proteste trotzdem weiter. Es reicht nicht aus eine Mehrheit zu organisieren, um Minderheiten zu überzeugen.

Wuppertal ist ein Vorbild in Sachen Bürgerbeteiligung

Trotzdem oder gerade deshalb suchen immer mehr Kommunen nach geeigneten Möglichkeiten der Mitbestimmung. Die Stadt Wuppertal testet ein wie ich finde sehr spannendes Modell der Mitbestimmung. Die Grundidee erinnert mich ein wenig an die Laien im Gerichtswesen. Ihr Beitrag ist allgemein akzeptierter Teil von Gerichtsentscheidungen. Denn diese „Laienrichter“ kommen aus der Mitte der Gesellschaft, informieren sich ausführlich über die Fälle, über die sie zu urteilen haben und sind ebenso involviert, wie die Berufsrichter. Fachleute und Bürger entscheiden gemeinsam. Genauso macht es auch das „Amt für Bürgerbeteiligung“ in Wuppertal. So sucht sie aktuell Interessierte Fahrgäste von Bussen, die als „Alltagsexperten“ den Fachleuten bei der Nahverkehrsplanung „auf die Finger“ schauen, wie es wörtlich auf der Homepage der Stadt heißt.

Die Wuppertaler Schwebebahn - Teil des Nahverkehrsplans der Stadt, der durch Bürgerbeteiligung verbessert werden soll

Hintergrund: In Wuppertal wird bis Ende 2018 an einem neuen Nahverkehrsplan gearbeitet. Ausgesucht werden die Leute per „Losverfahren“, angelehnt an die athenische Demokratie des Zufallsprinzips. Ich finde, es lohnt sich, die Idee mal weiterzuspinnen: Eine solche „Bürgerkammer“ könnte bei Großprojekten im Ort im Vorfeld Expertenanhörungen durchführen und anschließend ein „Bürgergutachten“ an die Stadt- und Gemeinderäte erstellen. Die Bürgerkammern könnten nach dem Zufallsprinzip, jedoch anhand bestimmter Kriterien aus Bürgern mit unterschiedlicher Ausbildung, Interessen und Altersgruppen „zusammengewürfelt“ werden. So werden Erfahrungen und Verfahren des Parlamentarismus auf ein direktdemokratisches Modell übertragen.

Stadtparlamente dürfen nicht zu Rumpfparlamenten verkommen

Wichtig dabei dürfte aber sein: Die Entscheidungshoheit muss weiter in den Stadt- und Gemeindeparlamenten liegen, es würde nur zu noch mehr Politikverdrossenheit führen, wenn Gemeinderäte zu „Rumpfparlamenten“ würden, die bei wichtigen Entscheidungen nur noch abnicken, was Mehrheiten zuvor entschieden haben. Denn die Gemeindeparlamente sind und bleiben die Herzkammer der Demokratie. Am Ende müssen also alle Entscheidungen im Stadtparlament getroffen werden – teils auch gegen den mehrheitlichen Bürgerwillen. Die Entscheidungsfindungen der Parlamente auszuhöhlen, wäre dramatisch. Die Entscheidungen auf eine breitere Legitimationsbasis zu stellen, hingegen nicht. Wenn dieser Weg weiter klar ist, braucht für eine solche „Bürgerkammer“ übrigens kein einziges Gesetz geändert werden. Analog zu freiwilligen Fachausschüssen haben die Kammern „nur“ beratenden Charakter. Der Weg, den Wuppertal einschlägt, ist daher aus meiner Sicht beachtenswert und nachahmenswert. Es ist zumindest eine spannende Idee, um einen Weg zu finden, das Augenmaß der Kommunalpolitik und die Leidenschaft der Bürger für wichtige Entscheidungen in Einklang zu bringen.

Die Weisheit der Vielen nutzen - aber "Herdenblödheit" verhindern

Mehr Partizipation bedeutet für mich, die Bürger nicht als Bremse politischer Entscheidungen zu sehen, sondern sie stärker in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Die Weisheit der Vielen nutzen, ohne dass aus „Schwarmintelligenz“ „Herdenblödheit“ wird. Dieser Ansatz ist allemal spannende Diskussionen wert.