Lühsdorf in Potsdam-MIttelmark
Dörfer wie Lühsdorf im Landkreis Potsdam-Mittelmark in Brandenburg dürfen die Stimmen bei der Bundestagswahl nicht mehr selbst auszählen.
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Bundeswahlordnung verfassungswidrig?

Protest: Dörfer erfahren nicht, wie gewählt wurde

Die veränderte 12. Bundeswahlordnung schreibt vor, dass die Wahlurne auf Reisen gehen soll, wenn weniger als 50 Stimmen abgegeben wurden. Die Wahlurne wird verschlossen in einen Nachbarort verbracht - dort findet dann die gemeinsame Auszählung statt. So weiß das Dorf aber nicht mehr, wie es gewählt hat. Ein Ortsvorsteher ließ das prüfen - der Rechtsanwalt kommt zu dem Schluss: Die Änderung ist inhaltlich verfassungswidrig.

Lühsdorf, ein kleiner Ort im Brandenburgischen. Hier leben etwa 70 Menschen. Stünde heute eine Wahl an, wären 55 Bewohner des Dorfes dazu berechtigt, ihre Stimme abzugeben. „Bisher hat immer alles wunderbar geklappt“,  sagt Ortsvorsteher Helmut Theo Herbert nicht ohne Stolz. Es gab stets genügend Frauen und Männer, die als Wahlvorstand fungieren. Keine Wahlanfechtungen und auch keine sonstigen Probleme.  Wenn am 26. September ein neuer Bundestag gewählt wird, soll aber einiges anders ablaufen als bisher – und das gefällt Herbert ganz und gar nicht. Denn die veränderte Bundeswahlordnung schreibt vor, dass die Stimmen nicht mehr am Ort ausgezählt werden dürfen – sofern weniger als 50 abgegeben worden sind. Dies sieht der neu geschaffene Paragraf 68, Absatz 2, BWO, unter der Überschrift  "Zählung der Wähler" vor.

Bundeswahlordnung: Gemeinsame Auszählung

Der Kreiswahlleiter ordnet in diesem Fall an, dass der Wahlvorstand die verschlossene Wahlurne, das Wählerverzeichnis, die Abschlussbeurkundung und die Wahlscheine dem Wahlvorstand eines bestimmten anderen Bezirks unverzüglich übergeben muss. Das Wahlergebnis wird dort dann gemeinsam ermittelt.

Wahlurne geht auf Reisen

Was bedeutet das? „Wir müssen die verschlossene Wahlurne nach Schließung der Wahllokale um 18 Uhr in ein Nachbardorf fahren“, erläutert Lühsdorfs Ortsvorsteher. „Dort müssen wir die Urne dann abgeben und der Inhalt  wird mit den Stimmzetteln des anderen Ortes zusammengeschüttet.“ So erfahren die Lühsdorfer also künftig nicht mehr, wie bei ihnen gewählt wurde. Er sieht die kleinen Kommunen einer wichtigen Information beraubt und ärgert sich:

Wir haben auf den Dörfern in den vergangenen Jahren schon so vieles verloren: Den Lebensmittelladen gibt es nicht mehr, der Bus fährt nur noch selten und jetzt nehmen sie uns auch noch unsere Wahlurnen weg.“

Helmut Theo Herbert, Ortsvorsteher von Lühsdorf

Wie Lühsdorf geht es vielen kleinen Orten in Deutschland – und der Bürgermeister des Dorfes im Landkreis Potsdam-Mittelmark ist vermutlich nicht allein mit seinem Bedauern. Wer will nicht wissen, wie die Nachbarschaft gewählt hat, wie die Dorfgemeinschaft politisch tickt? Ob die AfD hier stark unterstützt wird, die CDU, SPD, die Grünen oder wie die FDP und andere hier abgeschnitten haben?

Anwalt: geänderte Bundeswahlordnung inhaltlich verfassungswidrig

Auch weil er findet, dass die neue Bestimmung das Interesse an der Demokratie beeinträchtigt, hat Ortsvorsteher Herbert juristisch prüfen lassen, ob die neue Bundeswahlordnung in diesem Punkt überhaupt zulässig ist. Der von ihm um eine Stellungnahme gebetene Anwalt kommt zu dem Schluss: Die geänderte Bundeswahlordnung ist inhaltlich verfassungswidrig.

Die neue Verordnung beruht auf einer Ermächtigungsgrundlage im Bundeswahlgesetz. Innen- und Heimatminister Horst Seehofer durfte sie daher erlassen. Formal also alles richtig.  Der Verwaltungsrechtsexperte Dominik Lück von Dombert Rechtsanwälte hält die 12.  Bundeswahlordnung jedoch inhaltlich für verfassungswidrig. Dass die Stimmen an einen anderen Ort der Auszählung gebracht werden, verstößt aus seiner Sicht „gegen den Grundsatz der Wahlöffentlichkeit“. 

Wahlurne könnte theoretisch ausgetauscht werden

Nach seiner Prüfung kommt der Anwalt zu dem Schluss: „Ein Wahlverfahren, in dem der Wähler nicht zuverlässig nachvollziehen kann, ob seine Stimme unverfälscht erfasst wird und wie die insgesamt abgegebenen Stimmen zugeordnet und gezählt werden, schließt zentrale Verfahrensbestandteile nach der Wahl von öffentlicher Kontrolle aus. Es genügt daher nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.“

Die Stimmen, so gibt er zu bedenken, würden durch den Wahlvorstand mit dem Privatauto in den nächsten Ort gefahren. Nicht alle Wahlvorstände werden aber über Pkws verfügen, die neben dem Wahlvorstand und den Stimmen sowie dem übrigen Wahlmaterial überhaupt ausreichend Platz für einen weiteren Mitreisenden haben. „Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der in der Corona-Pandemie geltenden Hygienevorschriften“, betont Lück. Die Wahl könnte deshalb womöglich angefochten werden. Denn wer kann schon mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass die Urne nicht ausgetauscht wird?

"Wahlverfahren nicht effektiver"

Für effektiver hält der Rechtsexperte das Wahlverfahren auch nicht. Effizienter wäre sie nur, wenn Wahlbezirke zusammengelegt werden und damit Wahlhelfer eingespart würden – oder: Wenn die Stimmen schneller ausgezählt werden könnten. Das alles passiere durch den Transport und die Auszählung im anderen Wahllokal nicht. „Es handelt sich also nicht um eine Erleichterung der Aufgaben des Wahlvorstandes, sondern um einen Mehraufwand, auch zeitlich“, so Lück.  Deutlich werde das vor allem am Beispiel des kleinsten Wahlbezirks Deutschlands, Hallig Gröde. Ein Transport der Wahlurne übers Wasser zum Festland rüber werde nur zu bestimmten Zeiten und unter Berücksichtigung der Wetterbedingungen möglich sein. Auf dem Eilland in Schleswig-Holstein haben sich die wenigen Bewohner in der Vergangenheit allerdings ohnehin verstärkt für die Briefwahl entschieden – damit nicht herauskommt,  wer wie gewählt hat.

Der Anwalt sieht auch die gemeinsame Stimmenauszählung ab 50 Stimmen willkürlich festgelegt. „Selbst in dörflichen Strukturen scheint ausgeschlossen, die Stimmabgabe von nur 25 Personen nachvollziehen zu können, so Lück.

Bundesinnenministerium: Wahl-Geheimhaltung gefährdet

Der Lühsdorfer Ortsvorsteher hat auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes  beim Bundesinnenministerium nachgefragt. Eine Vertreterin des Bürgerservice im Innenministerium schrieb ihm: „Die Wahlbezirke sollen nach § 12, Absatz 2 der Bundeswahlordnung nach den örtlichen Verhältnissen so abgegrenzt werden, dass allen Wahlberechtigten  die Teilnahme an der  Wahl möglichst erleichtert wird.“ Und weiter: „Kein Wahlbezirk soll mehr als 2500 Einwohner umfassen.“

Zugleich werde angeordnet, dass bei der Bildung der Wahlbezirke durch die Gemeinden die Zahl der Wahlberechtigten in einem Wahlbezirk nicht so gering sein darf, dass erkennbar wird, wie einzelne Wahlberechtigte gewählt haben. Denn kleine Wahlbezirke und damit insbesondere bei einem hohen Briefwähleranteil einhergehende niedrige Wählerzahlen in diesem kleinen Wahlbezirk, könnten eine Gefährdung der „Geheimheit der Wahl mit sich bringen“. Die Vorgabe ist nicht völlig neu: Sie wurde bereits zuvor für die Auszählung von Briefwahlstimmen bei Bundestags, Europa- und Kommunalwahlen erlassen. Begründet wurde sie mit dem Schutz der geheimen Wahl, so das Innenministerium.

Ortsvorsteher Herbert sagt dazu: „Es gab bei uns wirklich noch nie ein Problem mit der Geheimhaltung." Juristisch will er nichts weiter unternehmen. Er akzeptiert die neue Regelung, aber nur formal. Inhaltlich bedauert er sie –  und ist damit in den Dörfern nicht alleine.