Bietigheim-Bissingen: Als Naturwaldbetrieb ausgezeichnet
Auszeichnung für Bietigheim-Bissingen (v.l.n.r.): Forstamtsleiter Dr. Michael Nill, Oberbürgermeister Jürgen Kessing, Revierförster Axel Armbruster und NABU-Landesvorsitzender Johannes Enssle.
© C. Bauer

Naturwaldbetrieb

Hier entsteht der Urwald von morgen

Im Stuttgarter Speckgürtel hat die Stadt Bietigheim-Bissingen die Auszeichnung "NABU-Naturwaldbetrieb" erhalten. Lediglich weitere acht Kommunen haben dieses Prädikat bisher in Baden-Württemberg bekommen. Für Oberbürgermeister Jürgen Kessing war dieser Prozess ein "Selbstläufer", dem nicht einmal ein ordentlicher Beschluss vorausging.

Eine Auszeichnung, sagt Jürgen Kessing, habe man auch gar nicht angestrebt, aber gerne mitgenommen. "Unsere Förster, aber auch unsere Gärtner und die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Bauhofs arbeiten schon seit Jahren sehr naturnah und im Sinne der Biodiversität", unterstreicht der Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen. Beispiel: Pestizide! Die verwende man in seiner Kommune schon seit 15 Jahren nicht mehr. Sechs Prozent der kommunalen Waldfläche wurden überdies in den letzten Jahre zum "Urwald von morgen" erklärt - Tendenz steigend. "Dazu gab es aber keinen ausdrücklichen Beschluss. In den Jahren nach der Landesgartenschau 1989 ist dieser Prozess einfach immer mehr ins Rollen gekommen. Der Stadtrat war sich einig, dass es Orte geben muss, wo Tiere und Pflanzen Ruhe finden und in Ruhe gelassen werden."

Naturwaldbetrieb: Das sind die Kriterien

Kommunen und private Waldbesitzer, die sich mit der Auszeichnung "Naturwaldbetrieb" schmücken wollen, müssen dafür einige Kriterien erfüllen: Vollständiger Verzicht auf kahlschlagsweise Nutzung der Wälder, keine Neupflanzungen, sondern natürliche Naturverjüngung, keinerlei Chemieeinsatz, sanfte Betriebstechniken wie etwa der Einsatz von Rückepferden, aktiver Naturschutz sowie die Sicherung waldökologisch tragbarer Wilddichten. Den Bietigheimern kommt dabei zugute, dass der Wald in kommunaler Hand - anders als in waldreichen Kommunen - ohnehin kein nennenswerter Wirtschaftsfaktor ist. "Wir erzielen pro Jahr etwa 50.000 bis 70.000 Euro aus dem Holzverkauf und das ausschließlich durch Entnahmen, damit die anderen Bäume sich besser entwickeln können", unterstreicht der Oberbürgermeister.

Kommunaler Wald: Schäden überschaubar

Bietigheim-Bissingen ist alles andere als eine waldreiche Region. Von den 534 Hektar Wald sind 234 Hektar Staatswald, fast 300 Hektar gehören der Kommune. Private Waldbesitzer gibt es kaum. Dazu kommen 173 Hektar. öffentliche Grünflächen. "Drei Bäume, die zusammenstehen, gelten hier schon als Wald", erklärt Jürgen Kessing lachend. Die Schäden durch Hitzesommer und Borkenkäfer sind hier überschaubar geblieben. Auch weil der Gemeinderat, wie der Oberbürgermeister erklärt, schon seit vielen Jahren gegensteuert und der Bietigheimer Wald überwiegend aus Mischwald besteht. 

Anfragen und Beschwerden

Gegenwind? Gibt es nicht wirklich. Höchstens ein paar kleinere Anfragen und Beschwerden. Ein paar Bürger haben sich in der Bürgersprechstunde schon ein bisschen geärgert, erzählt der Oberbürgermeister. Überall läge Totholz herum oder das Laufen auf den Wegen in den Naturwaldregionen sei beschwerlicher geworden. Auf solche Beschwerden hat der Oberbürgermeister lakonische Antworten: "Totholz schafft wertvolle Lebensräume für Vögel, Fledermäuse und andere Waldbewohner und wem ein Weg zu beschwerlich ist, der kann sich gut einen anderen aussuchen!" Die überwiegende Mehrheit der Bietigheimer, stellt der Oberbürgermeister sofort klar, goutiere das Projekt Naturwald. Kein Wunder: Für eine derart hochverdichtete Region brummt und summt es in diesem Teil des Bietigheimer Waldes besonders durchdringend, der Blütenreichtum wächst und mehr Vogelstimmen sind auch zu hören. 

Im Naturwald in Bietigheim-Bissingen darf alles wachsen wie es will

Naturwald? Ja. Forstwirtschaft? Auch!

Revierförster und Ratsmitglied Axel Armbruster steht voll hinter dem Kurs der Stadt. Dem NABU sagte er anlässlich der Preisverleihung: „Hier in Bietigheim-Bissingen haben wir einen sehr hohen Anteil an Eichen – und das ist die Baumart, die für den höchsten Artenreichtum steht. Zweitens fühlen sich bei uns Fledermäuse offenbar sehr wohl: Mindestens sechs Arten sind nachgewiesen – von der Bart- bis zur Zwergfledermaus. Ob auch die besonders gefährdete Mopsfledermaus bei uns zu finden ist, wird eine demnächst anstehende Kartierung zeigen. Und drittens können sich bei uns auf sechs Prozent der Waldfläche ganz ohne forstliche Nutzung wertvolle ‚Urwälder von morgen‘ entwickeln.“ Als Wald-Romantiker versteht sich der Fachmann dennoch nicht. Er sei, sagt er, sogar ein Fan der Forstwirtschaft. Leute wie er seien dazu da, die Interessen aller Akteure unter einen Hut zu bekommen: Waldbesucher, Waldwirtschaft und die Interessen der Natur selbst. Das Letztere nicht zu kurz kommen, dafür sorgen nun die Urwald-Inseln in der baden-württembergischen Kommune. 

Auszeichnung soll Kommunen ermutigen

Derzeit gibt es laut dem Naturschutzbund Deutschland in Baden-Württemberg gerade einmal neun NABU-Naturwaldbetriebe: Die Städte Bad Dürrheim, Bietigheim-Bissingen und Pfullingen, die Gemeinden Hirschberg an der Bergstraße, Königsfeld, Mönchweiler und Wimsheim, den Bundesforstbetrieb Heuberg auf der Schwäbischen Alb sowie einen kleinen Privatwaldbetrieb in Schönwald im Schwarzwald. NABU-Landesvorsitzende Johannes Enssle erklärte bei der Verleihung der Urkunde an Oberbürgermeister Jürgen Kessing und Revierförster Axel Armbruster. „Die Auszeichnung ist auch eine Einladung an weitere Kommunen im Land, im Wald ebenfalls auf Chemie zu verzichten, der natürlichen Verjüngung den Vorrang zu geben und aktiv den Naturschutz zu fördern. Eine naturnahe Waldbewirtschaftung ist angesichts von Klima- und Artenkrise und der damit einhergehenden Folgen und Herausforderungen ein zentraler Baustein, damit der Wald als Lebens- und Naherholungsraum erhalten bleibt."



Die Kriterien für die Auszeichnung "NABU-Naturwald" sind hier detailliert einsehbar.

Fotocredits: C. Bauer