Ein Livestream oder eine digitalen Ratssitzung sollten für Gemeinderäte eine Selbstverständlichkeit sein, meint Christian Erhardt
Ein Livestream oder eine digitalen Ratssitzung sollten für Gemeinderäte eine Selbstverständlichkeit sein, meint Christian Erhardt
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Leitartikel

Diskussion um Livestream: Blockbuster Gemeinderatssitzung?

Die Ängste, die viele Gemeinderäte vor der Liveübertragung von Sitzungen oder einer digitalen Ratssitzung haben, sind teils ganz großes Kino. Gegen Netflix und Co haben wir keine Chance, aber dafür die große Chance auf Transparenz, meint Christian Erhardt.

Die Kinos sind dicht, bei Netflix und Disney+ haben die Bürger alle Serien durchgesuchtet, jetzt wird’s mal Zeit für nen echten Blockbuster. Die Ratssitzung live – Reality TV zum Anfassen mit Darstellern, die jeder in der Gemeinde kennt. Der Cliffhanger, der die Spannung hält: Tagesordnungspunkt 18 zum Bebauungsplan Nummer 186 aus 2019 in der dritten Änderungssatzung. Nee, ist klar: Mal ganz ehrlich, jede noch so einfach gestrickte Soap ist da spannender. Es sei denn, ja richtig: Es sei denn, Bürger interessieren sich wirklich für das eine oder andere Thema, das wir in der Sitzung gerade besprechen. Und genau da liegt die große Chance! Eine neue Öffentlichkeit zu schaffen, Menschen für Kommunalpolitik zu begeistern, die bisher wenig Berührungspunkte mit dem Thema hatten. Menschen zu erreichen, die niemals freiwillig den Weg ins Rathaus in eine Sitzung finden würden.

Auch wenn es kein Blockbuster ist - ein Livestream sollte im Jahr 2021 zur Herstellung der Öffentlichkeit gehören, meint Christian Erhardt
Auch wenn es kein Blockbuster ist - ein Livestream sollte im Jahr 2021 zur Herstellung der Öffentlichkeit gehören, meint Christian Erhardt

Livestream: Es geht um mehr als das rechtliche Herstellen von Öffentlichkeit 

Öffentlichkeit herzustellen ist ein wichtiger Grundsatz einer jeder Gemeinderatssitzung. Und das nicht nur im rechtlichen Sinne – vor allem muss es uns gelingen, die Öffentlichkeit auch zu erreichen! Bei uns scherzte vor Jahren schon mal ein Gemeinderat über die (ganzen drei) Zuschauer, „die hören wohl zu, weil sie daheim im Keller keine Modelleisenbahn zum Spielen haben“. So etwas würde ich natürlich niemals behaupten, aber wer sich im Ratssaal umschaut, der kommt nicht umhin festzustellen, dass es doch nur eine sehr kleine Gruppe an Menschen mit ähnlichem Hintergrund ist, die sich regelmäßig in die Sitzungen verirrt. Es sei denn, es geht um den Ausbau der Straße vor der eigenen Haustür und somit oft um den eigenen Geldbeutel.

Die Voraussetzungen für eine digitale Ratssitzung sind – trotz Corona – leider noch sehr hoch. Und jedes Bundesland hat es anders geregelt. Einige Kommunalverfassungen sehen die Möglichkeiten des digitalen Tagens noch gar nicht vor, andere haben Notverordnungen. Immerhin hat sich in einigen Bundesländern durchgesetzt, dass Gremien als Hybridsitzung tagen, ein Teil vor Ort und andere zugeschaltet per Video. Das Land Brandenburg ist gerade dabei, als erstes Bundesland die Möglichkeiten auch für die Zeit nach der Corona-Pandemie festzuschreiben. Andere Bundesländer werden dem Beispiel hoffentlich bald folgen.

Mythen über Livestream und digitale Ratssitzung widerlegen 

Doch trotz der rechtlichen Möglichkeiten haben sich auch in Bundesländern wie Baden-Württemberg oder Brandenburg die digitalen Sitzungen nur in wenigen Kommunen durchgesetzt. Das ist nicht erstaunlich angesichts der Tatsache, dass selbst bei den seit vielen Jahren fast überall erlaubten Livestreams von Sitzungen nur verhältnismäßig wenige Kommunen mitmachen. Manchmal machen Mythen die Runde, etwa „die Übertragung sei viel zu teuer oder technisch nicht zu realisieren“. Viel häufiger aber scheitert es an der Bereitschaft der Gemeinderäte und der Verwaltungen, sich darauf einzulassen. Immer wieder höre ich in Diskussionen das Argument, „man könne nicht mehr reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist“. Als wenn ein Streaming ein Straßenfeger mit Thomas Gottschalk oder vergleichbar mit den Quoten einer Fußball-WM wäre. Schön wärs ja… 

Auch das Argument, das Bildmaterial könne mitgeschnitten und dann bei Youtube oder anderswo zusammengeschnitten werden, zieht nicht wirklich. Das Urheberrecht an der Aufnahme liegt bei der Stadt oder Gemeinde, darf also nicht ohne Erlaubnis verwendet werden. Bisher gab es in Deutschland einen einzigen Fall, er landete vor Gericht und der Verursacher wurde verurteilt. Hier regieren leider zu viele „diffuse Ängste“ und zu wenig Bereitschaft, endlich mal neue Wege in der Kommunikation zu gehen. Gerade die Corona-Pandemie sollte uns den Mut geben, diese neuen Wege endlich auch auszuprobieren.

Über die Blender und Dauerredner durch den Livestream 

Und noch ein Argument möchte ich gerne widerlegen. Immer wieder höre ich, bei einer Übertragung würden die „altbekannten Blender in den Gemeinderäten endgültig zur Höchstform auflaufen“. Ja, da stimmt. Kurzfristig. In meiner Gemeinde werde ich seit ziemlich genau zwei Jahren per Live-Stream gefilmt. In den ersten beiden Sitzungen gerierten sich „die üblichen Verdächtigen“ tatsächlich noch mehr als sonst. Da wir die beiden Kameras recht geschickt oben an der Decke an der Wand installiert haben, ließ dieser Effekt aber sehr schnell nach. Und ja, nach der ersten Sitzung durfte ich in den sozialen Medien über mich tatsächlich einiges lesen. Dort machten sich nämlich diverse Nutzer Gedanken, ob ich möglicherweise an Diabetes leide. Ich war völlig erstaunt als ich das las. Der Grund war aber ganz einfach: Ich hatte an dem Tag sehr wenig getrunken und habe während der vierstündigen Sitzung am Abend rund 2,5 Liter Diät-Limonade getrunken. Die Flaschen hatte ich allzu gut sichtbar in Richtung Kamera stehen…aber im Nachhinein habe ich mich über die Sorge der Bürger gefreut und konnte sie beruhigen. Auch eine Möglichkeit, mit Bürgern mal sehr persönlich in Kontakt zu treten.

Mein persönliches Fazit nach 2 Jahren Livestream und sechs Monaten digitale Ratssitzung: Von Dauerbeobachtung habe ich bisher wenig gespürt, von Transparenz hingegen ziemlich viel. Und ich habe inzwischen einige vor allem jüngere Menschen gesprochen, deren Identifikation mit unserer Kommune nach dem Verfolgen einiger „Blockbuster-Ratssitzungen“ definitiv gestiegen ist. Das war es wert! Probieren auch Sie es aus!