Manfred Güllner Forsa
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Analyse

Güllner: Die Botschaft der Nichtwähler bei der Landtagswahl in Niedersachsen

Die Nichtwähler waren bei den Landtagswahlen in Niedersachsen zahlenmäßig doppelt so stark wie die Wähler der SPD – und sechs Mal stärker die AfD-Wähler. Eine Analyse von Forsa-Chef Manfred Güllner. Warum vor allem die Parteien nicht länger wegsehen dürfen und die Unzufriedenheit vieler Menschen ernster nehmen müssen!

Am Abend der Landtagswahl in Niedersachsen wurden vor allem die Grünen und die AfD, aber auch die SPD als Wahlgewinner, die FDP hingegen als der große Wahlverlierer gesehen. Begründet wurde diese Einschätzung mit einem Vergleich der Anteile der abgegebenen gültigen Stimmen bei den beiden letzten Landtagswahlen und mit Wählerwanderungen, die zwischen der Landtagswahl 2017 und der von 2022 stattgefunden haben sollen. Doch das entspricht nicht der Dynamik der Wahlentscheidungen der Wahlberechtigten, die sich ja seit 2017 zunächst bei der Europawahl 2019, dann bei den Kommunalwahlen und bei der Bundestagswahl im Herbst letzten Jahres und jetzt bei der Landtagswahl 2022 jeweils neu entscheiden mussten, ob sie sich an der Wahl beteiligen und falls ja, welcher Partei sie ihre Stimme geben wollen.

Und auch zur Klärung der Frage, inwieweit die Politik der Berliner Ampel-Koalition das Wahlergebnis in Niedersachsen beeinflusst hat, ist ein Vergleich zwischen den Landtagswahlergebnissen von 2017 und 2022 wenig hilfreich. Um die Dynamik des Wahlgeschehens nachvollziehen zu können, ist deshalb ein Vergleich der Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 mit denen der Landtagswahl am Sonntag und eine Einordnung in die historische Entwicklung des Wahlverhaltens im Land sinnvoller und aussagekräftiger.

Mobilisierungsdefizite auch beim Wahlgewinner SPD

Die SPD hatte bei den Landtagswahlen im Mai in Schleswig-Holstein und NRW erhebliche Schwierigkeiten, ihr Wählerpotential von 2021 wieder zur Stimmabgabe bei den Landtagswahlen zu bewegen. In NRW erhielt sie bei der Landtagswahl rund ein Drittel, in Schleswig-Holstein sogar über die Hälfte weniger Stimmen als noch im September letzten Jahres.

In Niedersachsen gelang der SPD mit ihrem Spitzenkandidaten zwar eine deutlich  bessere Mobilisierung ihrer Wähler, doch auch hier erhielt sie bei der Landtagswahl über 287.000 Stimmen weniger als bei der Bundestagswahl (ein Stimmenrückgang von über 18 Prozent).

Am Sonntag wurde die SPD noch von 20 von 100 Wahlberechtigten gewählt. Damit ist die SPD – wie überall in der Republik – weit von der breiten Verankerung in der Wählerschaft entfernt, über die sie einstmals verfügte. So konnte Gerhard Schröder bei der Landtagswahl 1998 fast 35 Prozent, bei der Bundestagswahl im gleichen Jahr sogar über 40 Prozent und selbst bei der Bundestagswahl 2005, die das Ende der rot-grünen Regierung auf Bundesebene besiegelte, fast 34 Prozent aller Wahlberechtigten als Wähler gewinnen.

Grafik Forsa Landtagswahlen Niedersachsen

Der Niedergang der SPD begann mit Sigmar Gabriel bei der Landtagswahl 2003 und setzte sich mit Wolfgang Jüttner 2008 fort, der die SPD in ein historisches Tief brachte. Stephan Weil gelang es trotz der Mobilisierungsdefizite im Vergleich zur Bundestagswahl 2021, dass das Niveau der SPD bei den letzten Wahlen nicht wieder so tief sinkt.

Grafik Forsa Landtagswahlen Niedersachsen

Nur geringe weitere Verluste der CDU im Vergleich zur letzten Bundestagswahl

Die CDU konnte bei der Landtagswahl im Mai in Schleswig-Holstein wegen der extremen Schwäche der dortigen SPD ihren Stimmenanteil im Vergleich zur Bundestagswahl um mehr als 50 Prozent steigern. Und in NRW gelang es der CDU mit Hendrik Wüst, ebenso viele Wähler zu mobilisieren wie im September letzten Jahres. Und auch in Niedersachsen war das Mobilisierungsdefizit der CDU mit einem Verlust von etwas mehr als 70.000 Stimmen (ein Minus von rund 6 Prozent) deutlich geringer als das des Wahlsiegers SPD.

Die CDU ist wie die SPD in Niedersachsen aber weit entfernt von ihrer einstigen Stärke. So wurde sie 2003 mit Christian Wulff von knapp einem Drittel aller Wahlberechtigten gewählt. Mit einem Anteil von knapp 17 Prozent aller Wahlberechtigten hat sich somit ihr Wählerpotential in den letzten zwei Jahrzehnten fast halbiert. Doch der Stimmeneinbruch der CDU fand bereits bei der letzten Bundestagswahl wegen der Schwäche des Kanzlerkandidaten der Union statt. Und auch mit dem neuen CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz konnte die CDU bislang - wie sich aktuell auch in Niedersachsen gezeigt hat - kaum von der Schwäche der Ampel-Koalition in Berlin profitieren.

Grüne verlieren deutlich im Vergleich zur Bundestags- und Europawahl

Die Grünen feierten ihr Ergebnis am Sonntag als das „historisch beste“ in der Wahlgeschichte des Landes. Doch dabei haben sie übersehen, dass sie bei der Bundestagswahl 2021 fast 200.000 und bei der Europawahl 2019 fast 320.000 Stimmen mehr erhielten als bei der Landtagswahl. Im Vergleich zur Bundestagswahl ist das ein Wählerschwund von fast 27 und im Vergleich zur Europawahl von sogar 37 Prozent.

Mit einem Anteil von noch nicht einmal 9 Prozent aller Wahlberechtigten sind die Grünen auch in Niedersachsen noch weit davon entfernt, eine „Volkspartei“ zu sein, die in allen gesellschaftlichen Schichten (und nicht nur in den oberen Bildungs- und Einkommensschichten in den urbanen Metropolen) verankert ist.

Großer Wählerschwund bei FDP und Linke

Die FDP erhielt bei der Landtagswahl über 300.000 Stimmen weniger als bei der Bundestagswahl vor einem Jahr (ein Wählerschwund von fast zwei Drittel). Die FDP dürfte – wie in der gesamten Republik – auch in Niedersachsen viele ihre mittelständischen Wähler enttäuscht haben. Ein Drittel weniger Stimmen erhielt auch die Linke, die nur noch von einer ganz kleinen Minorität (1,6 Prozent) der Wahlberechtigten gewählt wurde.

Die AfD: Der große Wahlgewinner?

Die AfD ist die einzige Partei, die bei der Landtagswahl im Vergleich zur Bundestagswahl 2021 mehr Stimmen (ein Plus von über 60.000 oder 18 Prozent) erhalten hat. Das ist die bisher beste Mobilisierung ihres Wählerpotentials bei einer Landtags-, Bundestags- oder Europawahl seit der Bundestagswahl 2017. Doch auch in Niedersachsen gelang es der AfD nicht, ihr gesamtes bei der Bundestagswahl 2017 gewonnenes Wählerpotential vollständig zu mobilisieren. Im Vergleich zu 2017 erhielt die AfD fast 26.000 Stimmen weniger (ein Minus von 6 Prozent).

Grafik AfD Wähler Landtagswahlen Niedersachsen

Der AfD gelang es zwar bei dieser Landtagswahl zum ersten Mal, ihr 2017 gewonnenes Wählerpotential zu einem hohen Grad auszuschöpfen. Doch vergrößert hat sich damit das AfD-Potential noch nicht. Die AfD hat bislang nur jene Wähler von 2017, die sich seither hinter anderen Parteien „versteckt“ hatten oder ins Lager der Nichtwähler abgewandert waren, wieder für sich gewinnen können. Diese Wähler hatten wegen der kritisch bewerteten Energiepolitik der Regierenden wieder ein Argument für die Wahl dieser Partei gefunden. Sollten allerdings die anderen Parteien ihre Wähler weiter – wie jetzt in der Energie-Krise – enttäuschen, ist ein weiterer Zulauf von nicht dem rechtsextremen Milieu zuzurechnenden Wahlberechtigten aus den unteren sozialen Schichten und auch aus dem durch extreme Existenz- und Statusängste verunsicherten Mittelstand nicht mehr auszuschließen.

Die wieder einmal vergessenen Nichtwähler

Am Wahlabend war viel davon die Rede, dass sich der Protest der Wähler vor allem gegen die Energiepolitik der Bundesregierung in erster Linie im Zuwachs der AfD-Stimmen gezeigt hätte. Doch vergessen wurde dabei wieder einmal, dass die „Partei der Nichtwähler“ mit rund 40 Prozent zahlenmäßig nicht nur doppelt so groß war wie die Zahl der Wähler der SPD (und sechsmal so hoch wie die Zahl der AfD-Wähler!!), sondern dass die Unzufriedenheit mit den Parteien vor allem durch Wahlenthaltung zum Ausdruck gebracht wurde. Diese Nichtwähler wollen trotz ihres Unmuts über viele politische Akteure nicht den Radikalen am linken und erst recht nicht am rechten Rand des politischen Spektrums ihre Stimme geben.

Gefahr durch Ignoranz des Unmuts

Doch wieder einmal wurde dieser Unmut und Protest einer so großen Zahl von Wahlberechtigten vor allem von den Parteien ignoriert. Und die ersten wieder eher parteitaktisch motivierten Reaktionen der Parteien nach dieser Wahl lassen nicht erkennen, dass dieser Unmut ernst genommen wird. Damit vergrößert sich die Gefahr, dass der bisher bestehende und auch in Niedersachsen trotz des hohen Stimmenanteils für die AfD noch wirksame Damm gegenüber rechtsradikalen Gruppierungen aufgeweicht wird.