Ali Doğan, Landrat des Kreises Minden-Lübbecke
Ali Doğan, Landrat des Kreises Minden-Lübbecke, hat selbst Migrationshintergrund.
© Christian Schwier

Politik war nicht vorbereitet

Landrat: Wir brauchen eine Debatte über gewalttätige Migranten

Politiker haben zu lange geschwiegen, wenn es um „schwarze Schafe“ unter Menschen mit Migrationshintergrund geht, sagt der Landrat des Kreises Minden-Lübbecke, Ali Doğan. In seinem Gastbeitrag für KOMMUNAL fordert er eine Doppelstrategie aus "Multi-Kulti und gleichzeitig Null Toleranz".

Ein 20-Jähriger wird Ende Juni am Rande der Abiturfeier seiner Schwester im ostwestfälischen Bad Oeynhausen zu Tode geprügelt. Der wenige Tage später verhaftete dringend tatverdächtige 18-jährige Mann ist Syrer und erst seit acht Jahren in Deutschland. Er soll bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten sein.

Nach Gewalttat in Bad Oeynhausen: Debatte um gewalttätige Migranten

Schnell keimt die altbekannte Debatte um Jugendgewalt und gewalttätige Migranten auf. Als Landrat bin ich in Nordrhein-Westfalen qua Amt Leiter der Kreispolizeibehörde. Seit über 20 Jahren beschäftige ich mich intensiv mit dem Thema Migration, speziell mit jungen Menschen mit Migrationshintergrund. Dass die Migration ein Mehrwert sein kann, ist aus meiner Sicht unbestritten. Doch dass sie neue, erhebliche Herausforderungen mit sich gebracht hat, wurde zu lange von zu vielen negiert. Die Politik war darauf nicht vorbereitet.

Ideologische Lager stehen sich gegenüber

Auf übergeordneten Ebenen steckten zu viele über Jahrzehnte den Kopf in den Sand. Wenn man das Problem thematisierte, so sah man schnell die sich diametral gegenüberstehenden ideologischen Lager: Auf der einen Seite die eher Rot-Grün-Linken, die in den Migranten nur Freunde und sozial Benachteiligte sah, auf der anderen Seite die Rechten, die die Migranten permanent defizitorientiert betrachteten, als Gefahr für den Wohlfahrtstaat und als Sicherheitsrisiko.

Doppelstrategie aus Multi-Kulti und Null-Toleranz

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Wahrheit in der Mitte liegt und dass wir – ähnlich wie es der bekannte Bürgermeister der belgischen Stadt Mechelen, Bart Somers, vorlebt – eine Doppelstrategie aus „Multi-Kulti“ und Null-Toleranz benötigen. Dies versuche ich auch über meine Auftritte in den sozialen Medien (LinkedIn, Facebook und Instagram @alidogan1982) zu kommunizieren.

 Integration: Mehr Anstrengungen notwendig

Einerseits müssen wir uns als Gesellschaft ehrlicher machen bei den Anstrengungen, die wir aufbringen für die Integration. Wir benötigen tatsächliche Partizipation, die Förderung und Ermöglichung von Spracherwerb, gute und ausreichende Kita-Plätze mit dazugehörigem Personal für alle, gute Schulen mit ausreichend Personal beim Lehrkörper, bei der Schulsozialarbeit, im Offenen Ganztag und bei den Eingliederungsleistungen. Wir brauchen einen guten und durchlässigen Übergang in den Arbeitsmarkt, bezahlbaren Wohnraum und eine gute Durchmischung von Wohngebieten. Das ist also die eine Seite der Doppelstrategie: Wir brauchen Einwanderung, wir brauchen Vielfalt! Vielfalt ist ein Mehrwert, wenn wir gute Förderinstrumente aufbauen!



Andererseits haben wir viel zu lange geschwiegen, wenn es um „schwarze Schafe“ unter Menschen mit Migrationshintergrund geht. Viel zu häufig wurden diejenigen, die das Thema problematisiert haben, automatisch in die rechte Ecke gesteckt. Das muss aufhören. Wir müssen darüber sprechen dürfen, ohne in Rassismen zu verfallen. Freilich ist es einfacher, dass ein „Ali“ das Thema besetzt, als es ein Oberbürgermeister einer Stadt mit Namen wie Pit tun könnte.

Viel zu häufig wurden diejenigen, die das Thema problematisiert haben, automatisch in die rechte Ecke gesteckt. Das muss aufhören."

Ali Doğan, Landrat des Kreises Minden-Lübbecke

"Es gibt desintegrative Migrantengruppen"

Auf dieser Seite der Doppelstrategie müssen wir darüber sprechen, dass es desintegrative Migrantengruppen gibt, die insbesondere aus patriarchalen Strukturen, vielfach aus muslimisch geprägten Ländern, kommen, dass es eine überproportionale Anzahl von Tatverdächtigten nichtdeutscher Herkunft gibt, dass es in Kitas und Schulen eine absolute Überforderungssituation des Systems gibt, weil wir zu viele sprachliche Barrieren bei den Kindern haben und auch viele Kinder mit Förderbedarf, welchem nicht entsprochen werden kann.

Wir müssen darüber sprechen, dass wir natürlich auch unter den Einwandergruppen solche haben, die unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und unseren Grundrechten teilweise diametral gegenüberstehen und es insbesondere bei diesen Gruppen auch Rassisten, Antisemiten, Homophobe gibt, was bisher nicht ausgesprochen werden durfte, ohne abgestempelt zu werden.

Als erster Landrat mit Migrationshintergrund in Deutschland empfinde ich es als meine Aufgabe, dass ich diese Doppelstrategie vor Ort vorlebe. Dabei hilft mir sicherlich mein Hintergrund als Akzeptanzquelle bei Migrantengruppen und Mehrheitsgesellschaft.

Terrain nicht den Extremisten überlassen

Ich hoffe, dass viele diesem Beispiel folgen. Denn meines Erachtens ist das eines der drängenden Probleme, die die Mitte der Gesellschaft bewegt. Wir dürfen dieses Terrain auf keinen Fall den Extremisten überlassen, denn diese wollen keine Lösungen, zumal sie sich selbst von dem Problem nähren. Sie würden sich mit der Lösung quasi selbst abschaffen. Gehen wir es also gemeinsam an, „ohne Angst und Träumereien“, wie es schon unser damaliger Bundespräsident Johannes Rau im Jahre 2000 in seiner viel beachteten Rede zu genau diesem Thema gesagt hatte!