Der Koalitonsvertrag beinhaltet zu viel "Zentralismus" und rückt die Kraft der Kommunen zu wenig in den Mittelpunkt, meint unser Zukunftsforscher
Der Koalitonsvertrag beinhaltet zu viel "Zentralismus" und nutzt die Kraft der Kommunen zu wenig, meint unser Zukunftsforscher
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Zukunftsforscher warnt Ampel

Der Koalitionsvertrag liest sich wie "mehr Zentralismus wagen"

Fortschritt geht nur mit weniger Zentralismus. Wir brauchen Innovationen von unten, aus den Kommunen. Doch leider liest sich der Koalitionsvertrag wie die Agenda einer Staatsreform, die Länder und Kommunen stärker an den Bund binden will. Als zentralistische Veranstaltung wird die Transformation aber nicht gelingen, meint unser Zukunftsforscher Daniel Dettling.

So viel Fortschrittsoptimismus war lange nicht. Das F-Wort ist das eigentlich Neue an dem Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Der Fortschrittsbegriff schien ausgestorben und war lange Zeit politisch heimatlos. Es war vor allem die Umweltbewegung, die bereits in den 1970er Jahren die vorherrschend angenommene Unbegrenztheit eines materiell-technologischen Fortschrittsbegriffs kritisierte und davor warnte, dass es zu existenzbedrohenden globalen Umweltveränderungen kommen werde. Fortschritt war der zentrale Zukunftsbegriff der Moderne. An seiner Spitze wollten in den letzten 40 Jahren weniger Linke als vielmehr Liberale und Konservative marschieren. Der Satz des legendären bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß ist praktizierte politische Dialektik: „Konservativ ist, wer an der Spitze des Fortschritts marschiert.“ Konservativ und progressiv – das hießen in der Ära Kohl wie Merkel die beiden Seiten derselben Medaille.

Wehrpflicht, Kernenergie, Ehegattensplitting waren nicht nur Kern der DNA der Bundesrepublik, sie galten auch als Voraussetzung für ökonomischen Wohlstand, technologischen Fortschritt und sozialen Zusammenhalt. Von den ersten hat sich die Politik in Berlin von heute auf morgen ohne öffentliche Debatte verabschiedet, das Ehegattensplitting findet sich an keiner Stelle des Koalitionsvertrags, stattdessen wird die traditionelle Ehe um weitere Lebensformen ergänzt. Woran die neue Koalition ihren propagierten Fortschritt messen will, lässt sie den Bürger im Ungewissen.

Ohne Zuversicht wird es nicht gehen - die immerhin beschwört der Koalitionsvertrag 

Die Vision des technologischen Fortschritts steht längst nicht mehr für sozialen Aufstieg und eine bessere Welt. Vielmehr fürchtet sich die Mehrheit der Deutschen vor alten wie neuen Technologien und nimmt das Land gespaltener als je zuvor wahr. Fast zwei Drittel sehen laut einer aktuellen Studie das Land vor einem Niedergang und über 90 Prozent beobachten eine Zunahme an Hass und Aggressivität. So wenig Zukunftsoptimismus war selten. Die Transformation einer 250 Jahre alten Industriegesellschaft in eine klimaneutrale innerhalb von weniger als 30 Jahren ist eine einzige Wette auf die Zukunft und gleichzeitig die Messlatte für die neue Fortschrittskoalition. In nur acht Jahren soll 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen kommen. Die Transformation wäre global beispiellos und wirtschaftlich kostspieliger als die deutsche Einheit. Wenn die Wette aufgeht, wären die Grünen die großen Gewinner. Die ökonomische Erneuerung gelingt nur, wenn „Fortschritt auch mit einem Sicherheitsversprechen“ einhergeht und der „Zuversicht, dass dies gemeinsam gelingen kann“, heißt es in der Präambel des Vertrags.

Ohne ein öffentliches Bewusstsein und die kollektive Hoffnung, dass das Morgen und Übermorgen besser wird als das Heute und Vergangene, wird sich diese Zuversicht nicht einstellen. Das öffentliche Bewusstsein ist der Radar für nötige Änderungen und gehört neben technologischem Fortschritt, Kapitalismus und bürgernahem Regieren zu den »vier Reitern des Optimisten«, auf die Andrew McAfee in seinem aktuellen Buch Mehr aus weniger setzt. Im Kampf gegen die Klimakrise und Umweltzerstörung, gegen Hunger, Kriege, Hass und Populismus werden zwar alle Reiter gebraucht, das Bewusstsein, dass die Reise gelingen kann, ist aber ihr eigentlicher Motor.

Wahrnehmung und Wirklichkeit klaffen weit auseinander...

Das öffentliche Bewusstsein leidet jedoch an der größer werdenden Kluft zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit. Beispiele hierfür gibt es viele. Das erste ist der Klimawandel: Die große Mehrheit der Deutschen sieht künftige Generationen und Menschen in Entwicklungsländern bedroht. Nur wenige glauben aber, persönlich von den steigenden Temperaturen betroffen zu sein. Oder Integration: Trotz Populismus, Ausländerfeindlichkeit und der verbreiteten Meinung, die Situation habe sich dramatisch verschlechtert, gelingt die Integration heute so gut wie noch nie. Migranten verfügen über bessere Sprachkenntnisse, die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist viel besser als früher. Das dritte Beispiel ist Wohnen: Fast 90 Prozent der jungen Menschen in Deutschland will künftig im Wohneigentum leben und glaubt an die Finanzierbarkeit. Die Hürden für den Eigentumserwerb sind jedoch zuletzt vor allem in der Altersgruppe der Jungen, im Osten stärker als im Westen gesunken.

Der Koalitonsvertrag missachtet eine wichtige Regel! 

Die Beispiele zeigen: Fortschritt geht nur mit den Kommunen. Denn Fortschritt ist weniger das Ergebnis staatlicher Planung denn Resultat gesellschaftlichen Wandels. Erfolgsreiche Transformation gelingt nur vor Ort - mit den Bürgern und Unternehmen, nicht ohne oder gegen sie. Fortschritt verläuft nicht linear und lässt sich kaum staatlich von oben vorgeben. Wer mehr Fortschritt wagen will, muss weniger Zentralismus unternehmen und stärker auf Innovationen von unten setzen. Der Koalitionsvertrag liest sich wie die Agenda einer Staatsreform, die Länder und Kommunen stärker an den Bund binden will. Als zentralistische Veranstaltung, als Revolution von oben, wird die anstehende öko-soziale Transformation nicht gelingen. 2015 rief der britische Schatzkanzler George Osborne die „Devolution Revolution“ aus. Die Kommunen sollten danach zentrale Aufgaben aus eigener Tasche bezahlen, nachdem die Regierung ihnen die Finanzmittel um 65 Prozent gestrichen hatte. Wie wäre es umgekehrt: Mehr Finanzmittel und Autonomie für die Kommunen zur Erfüllung bundesstaatlicher Aufgaben? Die sozial-ökologische Transformation entscheidet sich lokal und ist vor allem eine Aufgabe der Städte und Gemeinden. Stadtwerke und kommunalen Unternehmen sind die zentralen Akteure der Energiewende. Corona-Pandemie und Klimawandel sind der Beweis, dass es auf die Kommunen ankommt. Digitalisierungs- und Wohnbauoffensive sind auf agile und leistungsfähige Kommunen angewiesen. Der Erfolg der Fortschrittskoalition lässt sich messen: Verbessert sich das Leben der Menschen in den Städten und Gemeinden, nicht nur objektiv (wirklich), sondern auch subjektiv (wahrgenommen)?