Jugendämter im Ausnahmezustand
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Corona-Pandemie

Jugendämter im Ausnahmezustand

Lockdown, keine Schule, Jugendämter, die Problemfamilien nicht besuchen können – wie Deutschlands Jugendämter reagiert haben, welche kreativen Lösungen sie fanden – KOMMUNAL-Deutschland-Report!

Landkreis Passau in Niederbayern. Schon 2015 stellte die Flüchtlingskrise beim Jugendamt den Arbeitsalltag auf den Kopf. Ähnlich einschneidend hat Kreisjugendamtsleiter Franz Prügl nun auch die Her-ausforderungen angesichts der Corona-Pandemie erlebt. „Das war schon eine sehr stressige Zeit“, so Prügl, und das Jugendamt hätte sich abermals vollkommen neu organisieren müssen. „Aber wir haben das als Phänomen von außen, das uns alle betrifft, akzeptiert und miteinander gestemmt“.

Den Beziehungsabbruch wollen die Jugendämter vermeiden

Während des Lockdowns arbeiteten seine Mitarbeiter vier Wochen lang im Schichtdienst, die telefonische Erreichbarkeit war durchgehend gewährleistet und wurde intensiv genutzt. Dabei ging es vor allem darum, bei den betreuten Klienten einen Beziehungsabbruch zu vermeiden, wie die stellvertretende Jugendamtsleiterin Judith Klapper sagt. „Während des Lockdowns war es notwendig zu schauen, dass es nicht zu Gefährdungen kommt. Mit den Familien, die wir kannten, war der telefonische Weg als Ersatz über einen kurzen Zeitraum hinweg okay. Aber wir haben sehr schnell gemerkt, dass wir auch wieder persönlich zu den Familien müssen“.

Die Gefährdungsmeldungen selbst gingen während des Lockdowns wider Erwarten nicht eklatant in die Höhe. Allerdings sei man sich aufgrund des eingeschränkten Kontakts auch darüber im Klaren: „Wir wissen nicht, wie es wirklich war und was sich während dieser Zeit in manchen Familien abgespielt hat“, und natürlich habe es auch Familien gegeben, die still gehalten hätten. Zudem kamen keine neuen Klienten hinzu, weil potentielle Stellen, die auf Missstände aufmerksam machen, wie Schulen oder Kindergärten, geschlossen hatten. Allerdings sei es effektiv nur um wenige Wochen gegangen, in denen dies so war. „Der Zeitraum war zum Glück sehr kurz – hoffentlich kurz genug“, sagt Prügl, und schon ab Mai seien die Besuche vor Ort wieder ausgeweitet worden.

Homeschooling stellt eine große Herausforderun dar

Als eine der größten Herausforderungen für die Familien während des Lockdowns hat sich das Homeschooling gezeigt. „Den Kindern und auch den Eltern wurde hier sehr viel zugemutet“, so Prügl, und immer wieder hätte es überforderte Eltern gegeben, die verzweifelt anriefen: „Wir halten es nicht mehr aus, wir brauchen Hilfe.“ Umso wichtiger sei die Notbetreuung für Kinder aus belasteten Familien gewesen.

Auch Umgangs- und Sorgerechtskonflikte brachen verstärkt auf in der Zeit des Lockdowns. Oft sei Corona benutzt worden, um den Umgang mit dem Kind zu steuern. Intensive Unterstützung benötigten zudem die Pflegefamilien, die angesichts der wegfallenden Schule und Therapieangebote teilweise deutlich an ihre Grenzen kamen.

Seit Ende des Lockdowns bemerken die Mitarbeiter einen Anstieg an Hilfsanfragen. So wurden seit dem Sommer 25 bis 30 Prozent mehr ambulante Hilfen in Anspruch genommen als im Vorjahr. Ob das mit der Corona-Situation zusammenhängt, ist nicht belegt; unabhängig davon bewerten Prügl und Klapper diese Entwicklung aber durchaus positiv. „Die Leute kommen eher zu uns und melden sich – das ist gut“, so Klapper. Während des Lockdowns seien manche Probleme wohl sichtbarer geworden und die Bereitschaft gewachsen, sich Hilfe zu suchen. Dies sei womöglich auch ein Ergebnis der intensiven telefonischen Betreuung. „Das Vertrauensverhältnis zwischen Mitarbeiter und Klient wurde gefestigt. Die Leute haben erfahren: ich kann anrufen, ich werde gehört“, so Klapper.

Verlässlichkeit stand an erster Stelle

Diese verlässliche Ansprechbarkeit und Begleitung stand auch im Jugendamt des Berliner Bezirks Treptow-Köpenick an erster Stelle. „Wir waren auch während des Lockdowns die ganze Zeit über vor Ort und haben versucht, alles zu tun, was in unseren Möglichkeiten steht“, sagt Leiterin Iris Hölling. Dazu hätten sie auch viel improvisiert. „Manchmal haben die Mitarbeiter kurzerhand eine Besprechung im Freien abgehalten, wenn ein Klient unangemeldet plötzlich vor der Tür stand. Und gerade die Mitarbeiter der Erziehungs- und Familienberatungsstelle sind oft mit den Eltern spazieren gegangen statt nur zu telefonieren."

Auch in Berlin ging mit dem Lockdown eine Fülle von neuen Anforderungen einher. Da galt es, viele formale und organisatorische Fragen von Trägern und Jugendfreizeiteinrichtungen zu beantworten, zudem traten anfangs zahlreiche Probleme rund um die Notbetreuung auf, da diese zu Beginn von vielen Schulen und KiTas nicht umfangreich angeboten wurde.

Ein großes praktisches Problem stellte in Treptow-Köpenick die veraltete Technik-Ausstattung dar. „Wir sind hier technisch leider sehr hinterher, haben keinerlei Ausstattung für Videokonferenzen und nur 20 mobile Geräte für 260 Mitarbeiter. Das war schon vor Corona ein großes Problem. Jetzt ist nochmal umso deutlicher geworden, wie zwingend notwendig eine gute Technik für mehr Flexibilität in der Infrastruktur wäre“, so Hölling.

Und auch der bereits vor Corona eklatante Fachkräftemangel im Bereich Soziale Arbeit hat die Arbeit in der Lockdown-Zeit erschwert. 130 Stellen sind im Land Berlin im RSD derzeit unbesetzt, die Belastung für die Mitarbeiter war und ist entsprechend hoch.

Im Lockdown gab es weniger Gefährdungsmeldungen als erwartet

Überraschend niedrig war die Anzahl der Gefährdungsmeldungen während des Lockdowns. „Wir haben am Anfang den Krisendienst verstärkt, weil wir damit gerechnet haben, dass wir mehr Gefährdungsmeldungen bekommen“, sagt Hölling. Das Gegenteil sei der Fall gewesen. „Es war gespenstisch ruhig die ersten 6 bis 8 Wochen und auch danach kam keine große Welle“. Über die Gründe dafür könne man nur spekulieren. Womöglich seien manche Familien tatsächlich deutlich besser mit der Situation zurechtgekommen als erwartet.

Allerdings stand auch die Sorge im Raum, dass es aufgrund der geschlossenen Einrichtungen wie Schule und Kita zu unerkannten – und entsprechend auch nicht gemeldeten – Gefährdungen gekommen ist. „Bislang können wir diese Hypothesen aber nicht bestätigen“, so Hölling, und um das genauer zu untersuchen, bräuchte es ausführliche Studien.

Gleichwohl sieht die Jugendamtsleiterin erhebliche Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen durch die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen: „Den Kindern werden unwiederbringliche Erfahrungen genommen, alle zelebrierten Übergänge, die Schulwechsel und Abschlussfeiern. Da gehen ganz wichtige Sozialisierungserfahrungen und Freiräume verloren. Das sind Jahre, die nicht nachzuholen sind und die Auswirkungen dessen kann man abschließend noch gar nicht absehen“, so Hölling.

Jugendämter wurden von der Krise überrumpelt

Auch im Jugendamt im münsterländischen Greven hat die Corona-Pandemie und ihre Folgen erst einmal alles auf den Kopf gestellt. „Mit einer solchen Situation haben wir nie gerechnet. Wir waren überhaupt nicht darauf vorbereitet – das ist wie ein Tsunami über uns hereingebrochen“, erzählt Leiterin Beate Tenhaken. Um dem Ausnahmezustand zu trotzen, wurden in Greven zwei Teams gebildet, die im Schichtdienst gearbeitet haben. Als zweiter Schritt stand die Unterbringung potentiell gefährdeter Kinder in der Notbetreuung im Fokus.

„Die Schule bietet nicht nur Bildung, sie bietet für die Eltern eine erhebliche Entlastung und verbindliche Betreuungszeit“, so Tenhaken. Für die Stabilität mancher Familien sei das spielentscheidend. Wie belastend die Zeit ohne den Schulrhythmus, stattdessen mit Homeschooling und Dauerbetreuung war, haben die Mitarbeiter bei der Rückkehr in die Familien nach dem Lockdown gemerkt. „Die Familien waren extrem angestrengt. Oft gibt es bei unseren Klienten ja ohnehin mehrere Probleme gleichzeitig: Da ist das Geld knapp, die Wohnung klein, es gibt Beziehungsprobleme… Viele sind in dieser Zeit deutlich an die Grenzen gekommen. Gerade, wenn da mehrere Kinder sind – wie soll das auch gehen? Irgendwann schreien dann alle“, so Tenhaken. Die derart belasteten Familien während der fordernden Lockdown-Zeit zu erreichen, war nicht einfach, wie Tenhaken berichtet.

Deshalb hat das Jugendamts-Team den Zugang über andere Wege versucht. Nachdem auch die Tafel schließen musste, gab es stattdessen eine Essensgutschein-Ausgabe. Dabei ging es schließlich um weit mehr als um Lebensmittel. „Die Gutschein-Ausgabe wurde ein wichtiger Bezugspunkt für uns“, sagt Tenhaken. Bewusst sei eine Sozialarbeiterin vor Ort gewesen und so hätten sich viele Gespräche entwickelt mit Leuten, die sich sonst wohl nicht gemeldet hätten.

Homeschooling, Erziehungsprobleme, Lagerkoller … die geschilderten Probleme waren zahlreich. „Wir haben dann geschaut: Wo drückt der Schuh? Wer sind die Netzwerkpartner, die helfen könnten?“ Diese intensive Kooperation hat viele Früchte getragen, erzählt Tenhaken. „Die Arbeit bei uns hat sich komplett verändert. Der Zusammenhalt ist viel intensiver geworden, sowohl untereinander als auch nach außen in der Kommunikation mit den Netzwerkpartnern.“ Das sei eine wichtige Erfahrung, die auch nach der Krise weitertrage. Von Vorteil sei dabei natürlich auch, dass Greven eine relativ kleine Kommune sei: „Wir kennen alle Netzwerkpartner persönlich, das erleichtert die Arbeit sehr“.

In schweren Zeiten will das Jugendamt Normalität bieten

Die Familien erreichen und möglichst viel Halt geben: das war auch der Anspruch, mit dem im Corona-Sommer in Greven die beliebte Ferienkiste, ein umfangreiches Ferienprogramm, veranstaltet wurde. „Unser Ziel war es, in den Sommerferien so viel Normalität wie möglich zu bieten und die Durststrecke für die Familien möglichst erträglich zu halten“, sagt Tenhaken. Das habe sehr gut funktioniert. „Dank guter Hygienemaßnahmen kam es zu keinerlei Infektionsgeschehen und wir haben viele Familien erreicht“.

Mittlerweile ist der Winter in Sicht und der zweite Lockdown stellt Familien und Jugendämter vor neue Herausforderungen. Das spürt man auch in Greven. „Die Situation jetzt ist natürlich sehr schwierig“, so Tenhaken. „Aber wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken. Wir müssen noch kreativer werden und noch digitaler. Einfach bis März abzuwarten ist keine Option, da verlieren wir ein halbes Jahr.“