Integration ist keine Einbahnstraße - sondern gilt für beide Seiten, sagt unser Zukunftsforscher Daniel Dettling
Integration ist keine Einbahnstraße - sondern gilt für beide Seiten, sagt unser Zukunftsforscher Daniel Dettling
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Integration

Integriert Euch! Plädoyer für eine neue Leitkultur

Die erschreckende Randale in der Silvesternacht hat die Diskussion um die Integration in Deutschland neu entfacht . „Wir brauchen eine Debatte über die Integrationsprobleme“, meint unser Zukunftsforscher Daniel Dettling.

Viele deutsche Städte sind zu Jahresbeginn geschockt aufgewacht. Mindestens 300 Angriffe auf Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr hat es in der Silvesternacht 2022/23 bundesweit gegeben. Vor allem in den Städten kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Die Tatverdächtigen sind fast ausnahmslos männlich, überwiegend jung und eine Mehrheit von ihnen hat eine Migrationsgeschichte. Deutschland hat ein Integrationsproblem, das die Minderheitsgesellschaft ebenso betrifft wie die Mehrheitsgesellschaft. Die große Mehrheit beider ist geschockt und ratlos. Was tun gegen einen Hass und eine Gewalt, die sich zunehmend gegen den Staat, seine Institutionen und die Beschäftigten bei Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst richtet? 

Integration: No-Go-Areas fallen nicht vom Himmel! 

Wer sich über die Taten empört, darf von den Tätern nicht schweigen. Statt reflexhaften Parolen sind Analyse und Konsequenzen gefragt. Junge Täter mit „Sitzenbleiben“ zu bestrafen, wie es der designierte „Sonderbevollmächtigte für Migration“, Joachim Stamp, fordert, ist die Spitze der politischen Hilflosigkeit der Kölner Silvesternacht vor sieben Jahren. Sitzenbleiben gilt pädagogisch als sinnloses Instrument. Integration handelt von (An)Sprache und Respekt.  Die „Problemviertel“, in denen sich Hass und Gewalt gegen den Staat austobten, sind nicht vom Himmel gefallen. Frust, Armut und Perspektivlosigkeit sind Folge politischer Entscheidungen, die mit „Brennpunktschulen“ mit einem Migrationsanteil von 70 bis 100 Prozent beginnen und mit Gewalt nach innen wie nach außen nicht enden. Zu lange haben Politik und Öffentlichkeit die Stadtviertel sich selbst überlassen, bis sie kippten.  

Erst nach seiner Amtszeit sprach Klaus Wowereit von „No-Go-Areas“ und forderte einen Tausch von Lehrern an Problemschulen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland rät davon ab, in deutschen Großstädten offen die Kippa, die traditionell jüdische Kopfbedeckung, zu tragen. Großstädte, in denen mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben als ohne, gelten in der Forschung als „super-divers“. Eine rein deutsche Mehrheitsgesellschaft gibt es in Frankfurt, Berlin, Hamburg und Köln nicht mehr.   

Auch eine Mischkultur braucht eine Leitkultur, die sich als inklusive, nicht identitäre versteht. Leitkultur, Vielfalt und Integration bedingen sich.

Was das eigentliche Ziel von Migration und Integration sein sollte...

Für Nargess Eskandari-Grünberg, die Interims-Bürgermeisterin der Stadt Frankfurt, geht es darum, dass die Leute sagen: „Das ist mein Land, ich bin Deutsche und ich will dieses Land mitprägen.“ Doch über eine neue Leitkultur und damit echte Integration zu streiten traut sich keine Partei in Deutschland. Auch die CDU nicht. Integration sei kein Gewinnerthema, heißt es in den Parteizentralen. So wie Bildung, Gesundheit, Bundeswehr. Ohne Debatte und Streit verlieren wir alle, am Ende auch unsere Identität, den Zusammenhalt und den Glauben an eine bessere Zukunft. Es geht dabei um drei Punkte: eine neue Debatte um Leitkultur, um ihre Motive und Ziele und Umsetzung sowie um spürbare Konsequenzen bei Regelbruch. Leitkultur ist mehr als eine Politik der Nulltoleranz gegen Gewalt und Hass. Die beste Leitkultur ist eine Streitkultur um die besten Ideen für eine Zukunft für alle Mitglieder einer Gesellschaft. Eine „offene Gesellschaft“ ist nicht für alle und alles offen. Es gibt Grenzen und gemeinsam anerkannte Grundregeln.

Motive und Ziele einer neuen Leitkultur sind zweitens Respekt und Aufstieg. Achtung vor dem und der Nächsten, gegenüber der gemeinsamen wie individuellen Vergangenheit und der noch offenen Zukunft. Respekt ist keine Einbahnstraße, sie gilt für beide Gesellschaft, die Mehrheits- wie die Minderheitsgesellschaft. Die allermeisten Einwanderer kamen, weil sie an das Versprechen von sozialem Aufstieg glaubten. Dafür braucht es die besten Erzieher, Lehrer, Eltern, Erwachsene und Nachbarn als Kümmerer und Paten gelingender Integration. Es braucht Motivation und Anreize. Schulische Leistung und nicht Schulverweigerung muss sich lohnen. Scheitern ist erlaubt, Aufgeben nicht. Jeder junge Mensch in diesem Land hat wenigstens ein Talent und damit eine Chance sein Leben zu meistern. Der schönen Prosa in Parteiprogrammen und Koalitionsverträgen a la „Wir wollen allen hier Lebenden Teilhabe und gleiche Lebenschancen bieten“ (Vertrag der rot-grün-roten Regierung in Berlin) muss pragmatischer Realismus folgen. Drittens braucht es klare Ansagen, welche Folgen dem drohen, der sich nicht an die Regeln hält. Wer den Staat ablehnt und seine Personenkräfte bekämpft, braucht auch seine Geldleistungen nicht. Das gilt für rein deutsche Reichsbürger wie nicht rein deutsche Randalierer.

Integration: Vorzeigebeispiel Mechelen in Belgien 

Wie die Quadratur des Kreises aus Sicherheit und Inklusion gelingen kann, hat Bart Somers vor Jahren in der belgischen Stadt Mechelen gezeigt. Der liberale Politiker wurde 2017 zum „besten Bürgermeister der Welt“ gewählt. Ein Jahr zuvor wurde Mechelen in die Top Ten „Europas Städte der Zukunft“ aufgenommen. Zu Recht: Somers hat in der belgischen Stadt mit 86.000 Einwohnern aus mehr als 130 Nationen geschafft, was den meisten Städten mit sozialen Brennpunkten nur selten gelingt. Mit einem Mix aus „null Toleranz“ und unorthodoxen Integrationsideen hat er Mechelen zu einer der sichersten und saubersten Städte in Belgien gemacht. Seine Erfolgsformel beschreibt er in seinem neuen Buch: „Ohne Sicherheit kein bürgerschaftliches Engagement!“ Nirgendwo in Belgien findet die Integrationspolitik heute so viel Zustimmung wie in Mechelen.

Der kategorische Imperativ „Integriert Euch!“ gilt für beide Seiten, die Minderheits- wie die Mehrheitsgesellschaft: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“, sagte einst Immanuel Kant. „Leitkultur, Ziele und Regeln“ lautet der kategorische Imperativ einer neuen Integrationspolitik.