Bürger im Gespräch
Gerade in Corona-Zeiten ist der Gedankenaustausch wichtig.
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Interview mit Mehr-Demokratie-Experten

Wie Kommunen Bürger in der Corona-Krise beteiligen können

In Augsburg hat jetzt erstmals - bundesweit einmalig - der „Bürgerbeirat Corona“ getagt. Das könnte ein Modell für andere Städte werden, sagt Ralf-Uwe Beck vom Verein „Mehr Demokratie e. V.“ Und: Wie kleinere Gemeinden mit ihren Bewohnern zu den Maßnahmen in der Pandemie ins Gespräch kommen können. Das gilt nicht nur für Zeiten ohne Lockdown.

KOMMUNAL Herr Beck, die Stadt Augsburg hat sich dazu entschieden, einen Bürgerbeirat Corona zu gründen. Was halten Sie davon?

Ralf Uwe Beck: Wir begrüßen das ausdrücklich. Das Beispiel Augsburg zeigt, dass es in der Corona-Pandemie mit ihren weitreichenden Folgen für die Bürgerinnen und Bürger auch jetzt noch nicht zu spät ist, solche Formate zu entwickeln und auszuprobieren.

Und wie bewerten Sie das von der Stadt gewählte Konstrukt?

Die Zusammensetzung des Gremiums scheint sehr gut überlegt zu sein. Der Beirat ist mit Mandatsträgern sowie Experten aus der Stadtverwaltung und auf der anderen Seite mit Bürgerinnen und Bürgern besetzt.  Auch das Besetzungsverfahren ist klug gewählt: Über das Losverfahren kann im Beirat tatsächlich ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung abgebildet werden.

Was sind die Kriterien?

Bewerben können sich den Ausschreibungskriterien zufolge Bürgerinnen und Bürger mit Wohnsitz in Augsburg, die mindestens 14 Jahre alt sind. Die Bewerbungen kommen in einen Pool, ausgelost wird nach festgelegten Kriterien, so dass das Geschlechterverhältnis stimmt, sämtliche Bildungsgrade und Altersgruppen im Beirat vertreten sind.  Und durch das Rotationsverfahren haben immer wieder andere Augsburger die Möglichkeit, mitzureden. Denn alle drei Monate wird der Beirat neu zusammengesetzt.

Sollten mehr Kommunen diesem Beispiel folgen?

Dieser Bürgerbeirat Corona könnte zum Modell für andere Kommunen werden. Bürgerbeteiligung sollte gerade in einer solchen Krisensituation zur Höchstform auflaufen. Leider müssen Politik und Verwaltung noch viel zu oft daran erinnert werden, die Bürger zu beteiligen. Wir erleben eine aufgeladene Situation. Und da sollte gelten: Was die Politik an Regelungen schafft, was die Gesundheitsämter vorgeben und die Verwaltung kompetent umsetzt, muss zusammengebracht werden mit der Kompetenz der Betroffenen. Das sind die Bürgerinnen und Bürger.

Wenn man sich die Anti-Corona-Demonstrationen anschaut, kann man an der Allgemeinkompetenz der Bürger aber massiv zweifeln.

Die Spaltung, die sich in der Gesellschaft andeutet, ist auch ein Ausdruck dafür, dass man keinen koordinierten Diskurs hat, der ergebnisoffen geführt wird. Wo gibt es schon eine solche Einladung und ein solch klug ausgedachtes Format wie in Augsburg? Die Gesellschaft zerlegt sich in Befürworter und Gegner. Ich finde es richtig und wichtig, dass die Stadt eine Schwelle beim Bewerbungsverfahren für den Bürgerbeirat eingebaut hat: Jeder, der sich bewirbt, muss eine Idee für eine Schutzmaßnahme gegen Corona mitbringen. Damit wird deutlich, dass konstruktive Vorschläge gefragt sind.

Ist das Modell eines Bürgerbeirats auch für kleine Kommunen geeignet?

In einer Dorfsituation macht ein solches Losverfahren wenig Sinn. Wer als Bürgermeister oder als Gemeinderat nicht im Gespräch ist, hat kein langes politisches Leben. Man könnte in der Corona-Krise aber zusätzlich ein Forum schaffen, in dem ein Querschnitt der Betroffenen mitreden kann. Also Vertreter von Verbänden und Vereinen, Pflegeeinrichtungen, Kitas, Statistikern, Gastronomen, Händlern und Handwerkern, aber auch Eltern und Schüler. Damit habe ich widerstreitende Interessen am Tisch – das in einem großen Raum, warum nicht in der Kirche, eben dort, wo Abstandsregeln eingehalten werden können. Oder ich mache eine Videokonferenz und lade dazu alle Menschen ein, die in der Gemeinde wohnen. Beteiligungsformate sind nicht in Stein gemeißelt und müssen zur Situation passen.

Wie steht es denn aus Ihrer Sicht um die Bürgerbeteiligung in kleinen Kommunen?

In kleinen Gemeinden unter 5.000 Einwohnern – und das sind 70 Prozent aller Kommunen in Deutschland - stellt sich Bürgerbeteiligung deutlich anders dar als in großen Städten. Das ist auch ablesbar daran, dass es dort weniger Bürgerbegehren gibt, die ja immer das Ziel haben, einen Bürgerentscheid herbeizuführen. In kleineren Kommunen wird dieses Notfallinstrument nicht so oft gebraucht.

Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie sind ja nicht das gleiche.

Beim Bürgerbeirat von Augsburg handelt es sich um Bürgerbeteiligung, so wie bei Einwohnerfragestunden, Planungszellen und Zukunftswerkstätten oder Bürgerhaushalten. Dabei werden die Bürger gehört, sie haben aber keine Entscheidungsbefugnis. Anders bei der direkten Demokratie: Sie ermöglicht es den Bürgern auf kommunaler Ebene ein Bürgerbegehren zu starten. Sind genügend Unterschriften zusammen, kommt es zum Bürgerentscheid. Das Ergebnis ist genauso viel wert wie ein Stadtratsbeschluss, die Politik muss das dann umsetzen. So wirkt die direkte Demokratie wie ein Gummiband, mit dem sich Politik verbindlich an die Interessen der Bürger rückbinden lässt.

Was erwarten Sie von den Kommunen, dem Bund und den Ländern in Sachen Bürgerbeteiligung in der Corona-Krise?

Die Zuständigkeit der Gesundheitsämter wird zunehmend respektiert und es werden Entscheidungen auf kommunaler Ebene getroffen, angepasst an die Situation vor Ort. Gut so. Den Rahmen aber setzen nach wie vor die Länder und der Bund.  Auf Länderebene gibt es aber nur vereinzelt Bürgerbeiräte, auf Bundesebene fehlt dieses Instrument völlig. Unser Verein Mehr Demokratie hat den Vorschlag gemacht, einen Bürgerbeirat direkt beim Kanzleramt zu installieren. Mit 69 Sitzen, wie im Bundesrat, die entsprechend der Einwohnerzahl der Länder verteilt sind.

Was könnten die Kommunen tun?

Es wäre begrüßenswert, wenn die Kommunen sich untereinander stärker über die Bürgerbeteiligung austauschen, welche Formate haben sich in der Corona-Krise und überhaupt bewährt. Gegenüber Land und Bund könnten sie ihr Gewicht stärker in die Waagschale werfen. Der Druck müsste von den Kommunen kommen, denn die müssen auch den Druck von unten aushalten.

Mehr-Demokratie-Sprecher Ralf Uwe Beck
Ralf-Uwe Beck: "Kommunen sollten sich über Beteilligungsformate austauschen."

Wie entwickeln sich Bürgerbegehren in Deutschland?

Wir verzeichnen 2019 eine deutliche Zunahme bei Bürgerbegehren. Bundesweit wurden 358 Verfahren neu von unten gestartet. 2018 waren es 267, im Jahr 2017 lediglich 283. Die größte Zunahme verzeichnen wir bei ökologischen und klimapolitischen Themen. Spitzenreiter sind so genannte Radbegehren. Die haben stark zugenommen. 2019 hatten wir zum Thema Radverkehr in Städten 15 Bürgerbegehren, 2018 waren es nur vier, 2017 waren es sieben und davor immer nur eins. Bis Mitte 2020 waren bereits 20 neue Bürgerbegehren dazu gestartet worden.

Wie sieht es in den einzelnen Bundesländern aus?

Da gibt es in Deutschland ein deutliches Gefälle. Die meisten Bürgerbegehren werden im Süden gestartet, 40 Prozent aller Begehren in Bayern, zwölf Prozent in Baden-Württemberg. Niedersachsen scheint zuzulegen; hier hat sich die Zahl 2019 von 11 auf 33 verdreifacht. Aber im Saarland gab es im vergangenen Jahr kein einziges Bürgerbegehren, hier hat es auch noch nie einen Bürgerentscheid gegeben. Das liegt einfach daran, dass die Hürden unterschiedlich hoch sind. Wir kritisieren das. Denn eigentlich ist die direkte Demokratie ein Frustschutzmittel. Mit ihr haben die Bürger die Möglichkeit, eine Sache selbst in die Hand zu nehmen, statt immer nur mit dem Finger auf „die da oben“ zu zeigen. Und wenn die Hürden zu hoch sind, ist dies eine Mogelpackung – und die sorgt nur für weitere Verärgerung.



So läuft es während des Teil-Lockdowns:

Der Bürgerbeirat setzt sich aus zehn Bürgerinnen und Bürgern, Oberbürgermeisterin Eva Weber, fünf Mitgliedern des Stadtrates sowie sechs Expertinnen und Experten aus der Stadtverwaltung zusammen. Er soll einmal im Monat tagen. Die Stadt Augsburg will nach derzeitigem Stand die Veranstaltungen des Bürgerbeirats  auch in der Zeit des  Teil-Lockdowns durchführen.

Eine Sprecherin verweist darauf, dass es nach bayerischer Rechtslage unter Corona-Gesichtspunkten möglich ist, eine öffentliche Veranstaltung in geschlossenen  Räumen abzuhalten. Es dürften allerdings höchstens 100 Personen daran teilnehmen und es muss ein entsprechendes Hygieniekonzept vorliegen. Die Teilnehmerzahl liege erheblich unter diesem Wert. Die Teilnehmer erhalten eine FFP2-Maske. Sie muss  bei der Diskussion getragen werden und sollte nur bei einem Redebeitrag kurz abgenommen werden.