Sprengung
Die Verbrecherbanden rücken mit explosivem Gemisch an.
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Kriminalität

Geldautomatensprengungen immer gefährlicher

Deutschland wird zunehmend zum Anziehungspunkt für Verbrecherbanden, die mit explosivem Gemisch anrücken. In den Kommunen wächst die Besorgnis. Eine Expertin der Staatsanwaltschaft Osnabrück gibt Tipps.

Die Täter kommen in der Nacht. Während vermeintlich alles schläft, betreten vier dunkel gekleidete Männer mit übergezogenen Sturmhauben die Tür zum Vorraum der Bankfiliale in Seulberg. Wenige Minuten später knallt es ohrenbetäubend. Es ist 2:27 Uhr, als die aufgeschreckten Anwohner zum Telefon greifen und die Polizei alarmieren. Doch als die Beamten kurz danach eintreffen, sind die dunklen Gestalten längst in ihren schwarzen Audi gesprungen und auf der Umgehungsstraße parallel zur Autobahn geflüchtet. Friedrichsdorfs Bürgermeister Lars Keitel wohnt mit seiner Familie in dem Ortsteil der hessischen Kleinstadt. Als er am Tatort eintrifft, ist er entsetzt über das Bild der Verwüstung.  Bei der Explosion wurde nicht nur der Geldautomat gesprengt, der Schaden geht weit darüber hinaus.

Geldautomatensprengung - Bürgermeister schockiert

 „Mich schockierte, dass es den Tätern vollkommen egal ist, ob im Haus darüber Menschen wohnen und deren Leben gefährdet wird“, sagt der Bürgermeister.  Durch die Wucht der Explosion wurde ein Teil des Gebäudes zunächst unbewohnbar. Neun Personen wurden vorsorglich evakuiert. „Was mich zudem schockiert, ist die unglaubliche Professionalität, mit der die Täter vorgingen“, so Keitel. „Selbst wenn Nachbarn wach werden und sie gefilmt werden, scheint sie das nicht zu stören. Die ziehen das Ding skrupellos durch.“ Auch die

Bäckerei nebenan wurde durch die Explosion in Mitleidenschaft gezogen. Nach einigen Tagen dann die Entwarnung: Das Haus war nicht einsturzgefährdet, die Menschen durften zurück in ihre Wohnungen. Diese Nacht, diesen Knall, die Erschütterung, werden sie aber garantiert nie vergessen.

Bürgermeister Lars Keitel
Friedrichsdorfs Bürgermeister Lars Keitel

500 Geldautomaten im Jahr 2022 bundesweit gesprengt

Bundesweit wurden im vergangenen Jahr rund 500 Geldautomaten gesprengt. Ein Rekordjahr. Mit Abstand am meisten betroffen:  Geldautomaten in Nordrhein-Westfalen, dort wurden 182 Geldautomatensprengungen gemeldet.  Auf Platz 2 der Negativ-Statistik: Niedersachsen. 68mal ließen Täter im Jahr 2022 dort Geldautomaten explodieren – 13mal häufiger als 2021.  Da seit 2015 immer mehr Geldautomaten in Niedersachsen gesprengt werden, die Schäden immer höher und die Gefährdung Unbeteiligter steigt, hat die Staatsanwaltschaft in Osnabrück im Dezember 2022 eine „Zentralstelle zur Bekämpfung von Geldausgabeautomatensprengungen“ für Niedersachsen eingerichtet. „Aus Sicht der Justiz ist es wichtig, die Erkenntnisse aus möglichst vielen Sprengungen an einer Stelle zu bündeln“, sagt eine Dezernentin der Zentralstelle. „Das betrifft vor allem Informationen, die nicht unmittelbar die Sprengungen und Sprenger betreffen, sondern die dahinterliegenden Strukturen.“ KOMMUNAL hat sich zum Schutz der Staatsanwältin entschieden, deren Namen  nicht zu veröffentlichen.

Täter kommen aus den Niederlanden

„Bei den Tätern handelt es sich auch bundesweit in den meisten Fällen um Männer aus der Region Utrecht/Amsterdam in den Niederlanden – fast immer mit marokkanischem Migrationshintergrund“, erläutert die Staatsanwältin. „Diese Personen agieren in Form eines kriminellen Netzwerks.“ Seltener handele es sich bei den Tätern um Osteuropäer und noch seltener um Nachahmer, etwa aus der Drogenszene.

Und es wird immer gefährlicher. „Inzwischen verwenden die Täter größtenteils nicht mehr ein Gasgemisch, sondern einen Festsprengstoff, oftmals aus illegalen Feuerwerkskörpern und Böllern. Das Ganze dauert nur ein paar Minuten, denn jeder Handgriff sitzt. „Die Explosionskraft ist oft so stark, dass durch die Sprengungen enorme Schäden am Gebäude und an den Nachbargebäuden entstehen können. „Es passierte schon, dass die Decke der Filiale einstürzte, so dass die Täter gar nicht mehr an den Automaten kamen“, erzählt sie. 

Die Schadenssumme ist exorbitant hoch im Verhältnis zur Beute. Die holen 30.000 Euro raus und hinterlassen ein Trümmerfeld.“

Expertin bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück



Die Wucht der Explosion lässt teilweise Fenster- und Türscheiben in gegenüberliegenden Häusern oder geparkten Autos zerspringen.  Manche Trümmer fliegen bis zu 30 Meter weit. Doch nicht nur die Bewohner oder Passanten geraten in Gefahr, die Täter gefährden andere und sich bei der Flucht. „Oft sind es drei Täter, einer bleibt immer im Auto und fährt dann den Fluchtwagen. „Sobald sie die meist schwarzen Sporttaschen mit der Beute ins Auto verladen haben, rasen sie mit dem hochmotorisierten Fahrzeug ohne Licht durch die Ortschaft. Auf der Autobahn gibt der Fahrer dann Vollgas, 280, 300 km/h, und überholen rechts auf dem Standstreifen.

Mit Vollgas über die Autobahn

Die Staatsanwältin sagt: „Wenn man das auf Videos sieht, wird einem angst und bange.“ Die Fahrmanöver sind so riskant, dass es häufig zu Unfällen kommt. Nicht immer gelingt die Flucht, doch die Polizei kommt schwer hinterher. Sie würde mit einer allzu wilden Verfolgung das Leben der Beamten und der anderen Verkehrsteilnehmer gefährden. „Zumal die Täter in den Autos in der Regel noch Ersatz- Sprengstoff und mehrere Benzinkanister dabeihaben, damit sie unterwegs nicht tanken müssen“, wie die Expertin berichtet. Mit dem erbeuteten Geld geht es dann in die Niederlande. Meist sind die Geldautomatensprenger jung, zwischen 18 und 30 Jahre. Werden sie geschnappt, droht ihnen nach dem Gesetz eine Haftstrafe von 1 bis 15 Jahren.

Tipps für  Kommunen

Was können Kommunen tun? „Wir empfehlen, sich an die örtliche Polizei zu wenden, um herausfinden, wie die Geldautomatenstandorte in der Gefährdungsskala eingestuft sind. Das Ergebnis könnte sein, dass Automaten abgebaut werden, etwa in Außenwänden in Supermärkten in Autobahnnähe, die keine Schutzmaßnahmen aufweisen, und stattdessen  SB-Container aufgestellt werden.  „Es bleibt in erster Linie Aufgabe der Banken, die Kommunen können aber eine Gefährdungsprognose anstoßen und damit auch mit Banken und Polizei ins Gespräch kommen.“ Und was rät sie Zeugen? „Kein Zeuge sollte ein Risiko eingehen, sondern sofort die Polizei über die 110 verständigen.“ Hilfreich wären Videoaufnahmen vom Fahrzeug. Die meisten Fahrzeuge sind gemietet; oftmals bei unseriösen Mietfirmen, die sich darauf spezialisiert haben.

Anreiz für Geldautomatensprenger in Deutschland

„Der Kern des Problems ist, dass in Deutschland der Anreiz für die Tatbegehung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sehr hoch ist“, sagt die Staatsanwältin. „Gründe sind unsere Bargeldkultur und damit die sehr hohe Dichte an Bankautomaten, die oft mit hohen Summen bestückt sind. In den Niederladen gibt es nur etwa 6.000 Bankautomaten, allein in Nordrhein-Westfalen sind es hingegen um die 10.000. Und in Frankreich hat der Gesetzgeber die Banken dazu verpflichtet, die Geldscheine mit Raubstofftinte zu versehen, sobald der Tresor durch eine Sprengung geöffnet wurde.“ In den Niederlanden sorge eine Technik dafür, dass im Fall einer Explosion statt Tinte ein Klebstoff auf die Scheine tropft und sie zu Blöcken zusammenklebt. Damit werden sie komplett wertlos.



„Der Verdrängungseffekt führt bei uns zu mehr Geldautomatensprengungen“, so die Expertin. Manche Banken haben an bestimmten Standorten bereits solche Schutzvorkehrungen getroffen oder haben dies vor. Doch verpflichtet sind sie dazu bisher nicht, was Polizei und Justiz bedauern.  Und sicherlich auch Bürgermeister.  „Viele Bürger haben mich danach gefragt, ob das Geld für die Täter überhaupt brauchbar sei“, sagt Bürgermeister Keitel aus Friedrichsdorf nach der schockierenden Geldautomatensprengung. „Sie gingen davon aus, dass es sich bei der Explosion durch Farbpatronen verfärbt.“ Wäre dies immer der Fall, würde sich eine solche Tat nicht mehr lohnen.

Fotocredits: FOTOS / Polizeidirektion Osnabrück, Adobe Stobe, Reiner Harscher