Der Einzelhandel dürfte aus der Coronakrise deutlich geschwächt herausgehen - was tun?
Der Einzelhandel dürfte aus der Coronakrise deutlich geschwächt herausgehen - was tun?

Vorschläge eines Bürgermeisters

Dem Einzelhandel eine Zukunft geben

Die Coronakrise hat dem Onlinehandel einen weiteren Schub gegeben. Leidtragender könnte der Einzelhandel sein, den Innenstädten droht ein noch schnelleres Aus. Was tun, um den Einzelhandel vor Ort zu stärken. Der Bürgermeister der Stadt Wörth am Rhein hat seine Gedanken im KOMMUNAL-Gastbeitrag formuliert. Seine Forderungen betreffen alle Ebenen - von der Kommune bis zum Bund.

Dem Einzelhandel eine Zukunft geben! Unter dieser Überschrift hat Dennis Nitsche, Bürgermeister der Stadt Wörth am Rhein seine Gedanken verfasst. Hintergrund: Wörth am Rhein ist eine verbandsfreie Stadt mit 18.000 Einwohnern im Landkreis Germersheim im Südosten von Rheinland-Pfalz. 

Hier dokumentieren wir seinen Gastbeitrag im Original-Wortlaut:



Die Corona-Pandemie wird in einigen Monaten überwunden sein. Ihre Auswirkungen im nicht-medizinischen Bereich werden wir noch lange Zeit, vielleicht sogar dauerhaft schultern müssen. Das Virus hat in uns allen – und der Autor nimmt sich dabei nicht aus – gravierende Verhaltensänderungen ausgelöst. Über diese vielfältigen Effekte wird im Einzelnen nachzudenken sein, ebenso wird ein vielfältiges Bündel an Maßnahmen erforderlich sein, um unerwünschte Folgen zu adressieren. In diesem Denkanstoß möchte ich mich auf die Situation des Einzelhandels konzentrieren.

Das nahezu vollständige Erliegen des öffentlichen Lebens aufgrund der Schutzvorkehrungen hat unseren Einzelhandel schwer getroffen, mit Ausnahme des Lebensmittelhandels und einiger weniger anderer Branchenzweige. Die Ladenschließungen haben unmittelbar zu nahezu vollständigem Ausfall der Umsätze vieler Händler geführt. Doch die Konsumbedürfnisse der Menschen wurden nicht aufgeschoben und aufgehoben. Sie haben sich verlagert – vom Ladengeschäft zur virtuellen Ladentheke in online-Geschäften. Es wird daher keinen oder zumindest kaum „nachholenden“ Konsum geben, denn die Konsumwünsche wurden über die online-Bestellung und Lieferung per Paketdienst weitgehend erfüllt. Den Ladengeschäften fehlt damit die Möglichkeit, die entstandenen Verluste wieder aufzuholen. Der Schaden bleibt.

Viel schlimmer als der temporäre Ausfall von Umsatz in den Ladengeschäften wird sich jedoch der Verhaltenswandel auswirken. Zahlreiche Menschen haben sich in den Wochen der Ladenschließungen aufgrund der Corona-Pandemie daran gewöhnt, selbst einfachste Dinge des täglichen Bedarfs im Internet zu bestellen und sich nach Hause liefern zu lassen. Das ist erfreulich für die online-Geschäfte, für die Zustellbranche und die Verpackungsindustrie. Für die zahlreichen Einzelhändler in den Dorfzentren und Innenstädten ist es eine Katastrophe. Ein Ladensterben bislang unbekannten Ausmaßes steht uns bevor – sofern wir nicht beherzt handeln.

Der Einzelhandel ist auch selbst gefragt - und hat viele Fehler gemacht... 

Selbstverständlich bedarf es auch des Engagements der Einzelhändler. Dieses war bislang nicht überall gleich stark ausgeprägt. Illustres Beispiel dafür war die Bemühung des Landkreises Germersheim im Jahr 2018, Hand in Hand mit allen kreisangehörigen Kommunen, die Einzelhändler im Kreis fit für den online-Handel zu machen. Berater wurden engagiert, Vorträge gehalten, Konzepte entwickelt – doch die Resonanz der Händler war, zurückhaltend formuliert, verhalten. Die Lage des Einzelhandels war zu diesem Zeitpunkt offenkundig noch nicht so schlecht, dass die Händler selbst eine Handlungsnotwendigkeit erkannt hätten. Die Anregungen des Kreises und der Kommunen als staatliche Akteure liefen damit ins Leere. Dann kam Corona, und die Sachlage änderte sich schlagartig: Die Einzelhändler hatten kein Konzept gegen den online-Handel, es wurde offenkundig, dass das Angebot von Kreis und Kommunen leichtfertig ausgeschlagen worden war. Die Umsätze brachen ein und die anhaltende Verhaltensänderung der Konsumenten durch online-Einkauf wird zur Existenzbedrohung für den Einzelhandel in den Dörfern und Städten. Selbst schuld und damit ist die Sache erledigt? Weit gefehlt.

Die aus individueller, unternehmerischer Sicht unglückliche Lage hat schwerwiegende Konsequenzen für die Kommunen, für die Struktur der Innenstädte und damit letztlich auch für unsere Gemeinschaft und das öffentliche Leben in den Dörfern und Städten. Wo immer mehr Läden verschwinden, wo Gewerbefläche durch sekundäre Nutzungen (z.B. Shisha-Bars, Wettbüros, Ramschläden) absorbiert wird oder Leerstand droht oder eine Umwandlung von Gewerbefläche in Wohnraum, da geht zwangsläufig auch eine Interaktionsplattform für die Bürger verloren. Sozialer Austausch, Begegnungen vor Ort, Kennenlernen und Schätzenlernen der Mitbürger bleiben auf der Strecke, wenn wir uns nicht mehr in den Innenstädten und Einkaufsstraßen oder in den Dorfmittelpunkten auch zufällig treffen beim Einkauf. Auch die Attraktivität und Lebensqualität in den Dörfern und Städten leidet, wenn anstelle liebevoll dekorierter Schaufenster nur noch Bildschirme mit Sportwetten in den Schaufenstern flimmern.

Das müssen die Konsequenzen sein - für den Einzelhandel, die Kommunen, die Länder und den Bund....

Zahlreiche Förderprogramme der Dorf- und Stadtentwicklung zielen bereits auf eine Aufwertung und Lebendighaltung bzw. Lebendigmachung der dörflichen Zentren und der Innenstädte. Das ist gut und richtig so und sollte weiter intensiviert – aber auch vereinfacht – werden. Bundesweit bestehen nach überschlägiger Sichtung gut 90 (!) Förderprogramme für Stadtentwicklung und Städtebauförderung und verwandte Fördergebiete. Das ist kaum mehr zu überblicken, gerade kleinere Kommunen haben gar nicht die personelle Ausstattung, um sich einen Überblick zu verschaffen und die ihnen eigentlich zustehenden Förderungen auch abzurufen. Andererseits: Wo wie beschrieben immer mehr Geschäfte schließen, weil sie vom online-Handel in den Ruin getrieben werden, da laufen Dorf- und Stadtentwicklung zumindest teilweise ins Leere.

Eine nachholende Verschränkung der Ladengeschäfte mit eigenen online-Angeboten vermag vielleicht noch die weitere Verschiebung zu den online-Handelsriesen zu begrenzen. Marktanteile zurückzuerobern wird dagegen nur schwer möglich sein und absehbar zumindest für die breite Masse der kleinen, inhabergeführten Ladengeschäfte nicht glücken.

Ich schlage daher mehrere Maßnahmen vor, die geeignet sind, die Konsumentenströme wieder in die Ladengeschäfte zu lenken und zugleich weitere Mehrwerte, insbesondere bezüglich des Klima- und Umweltschutzes, zu erzeugen:

1. Steuerliche Lenkungswirkungen nutzen!

Über die Mehrwertsteuer (Umsatzsteuer) lässt sich ein wirkmächtiger Impuls setzen. Daher schlage ich vor, für Einkäufe in Ladengeschäften pauschal einen vergünstigten Mehrwertsteuersatz anzusetzen. Zugleich muss der Mehrwertsteuersatz für online-erworbene Güter und Leistungen erhöht werden. Damit wäre der Wettbewerbsnachteil, den Ladengeschäfte durch die Unterhaltung von Verkaufsflächen und Fachpersonal haben, ausgeglichen. Sie könnten ihre Waren den Konsumenten faktisch zum gleichen Preis anbieten wie die online-Konkurrenz. Freundlichkeit, Serviceorientierung und das Prüfen der Ware vor Ort würden damit wieder zu einer echten Kaufentscheidung. Allzu oft ist es derzeit so, dass Kunden sich vor Ort über Produkte informieren, dann aber dasselbe Produkt online einkaufen – zum günstigeren Preis, weil der online-Händler sich die Kosten für Ladenmiete, Heizung, Kundentoilette und Präsenz-Personal schlicht spart – und allzu häufig auch den Betriebsrat, den Tarifvertrag und vernünftige Arbeitsbedingungen.

Um die gewünschte Steuerungsleistung der steuerlichen Maßnahme zu erzielen sind Berechnungen der Finanzbehörden erforderlich, die ohne die entsprechenden Daten an dieser Stelle nicht leistbar sind. Ziel aller steuerlichen Maßnahmen muss sein, dass Ladengeschäfte „unterm Strich“ ihre Waren gleich günstig oder sogar etwas günstiger anbieten können als online-Händler. Der Preisvorteil muss die Bequemlichkeit aufwiegen. Der Wert intakter und lebendiger Innenstädte gebietet es, steuernd einzugreifen und die beiden für die kommunale Entwicklung unterschiedlich bedeutsamen Handelsformen Ladengeschäft und online-Handel unterschiedlich zu bewerten. Gleiches muss gleich behandelt werden – Ungleiches aber ungleich. Ladengeschäft und online-Handel sind in ihrer Bedeutung ungleich und damit ist eine ungleiche Behandlung nicht nur erforderlich, sondern zwingend geboten. Händler, die sowohl Ladengeschäft als auch online-Handel anbieten, hätten dann jeweils nach Absatzwegen getrennte Steuer abzuführen, maßgeblich könnte z.B. sein, auf welchem Wege (vor Ort, online) der Kaufvertrag zustande kommt.

2. Mietpreisbremse für Ladengeschäfte!

In zahlreichen Innenstadtlagen und teilweise schon in kleineren Ortschaften sind für Ladengeschäfte Mieten zu bezahlen, die bei den bekanntermaßen geringen Gewinnmargen des Einzelhandels kaum mehr zu stemmen sind. Da der Bestand eines vielfältigen Angebots an Waren und Dienstleistungen in Geschäften in den Dorfzentren und Innenstädten ein bedeutendes öffentliches Interesse darstellt, ist der Staat aufgefordert, Überhitzungen des Mietmarktes entgegenzutreten. Eine Mietpreisbremse für Gewerbeimmobilien, insbesondere Ladengeschäfte ist daher unerlässlich.

3. Tatsächliche Kosten des Konsums offenlegen und verrechnen!

Ökologische Fußabdrücke müssen auch im Handel Berücksichtigung finden. Die sich immer mehr verbreitende Praxis des unbedachten Bestellens, Anprobierens und Zurückschickens erzeugt nicht nur gewaltige Warenströme, sondern auch damit einhergehende ökologische Kosten. Wir brauchen dringend auch hier das Verursacher-Prinzip und eine Internalisierung der externen Kosten: Wer durch sein Verhalten der Umwelt schadet, muss durch den Preis der Ware die Behebung des Schadens tragen. Bei allen Handelswaren müssen daher die tatsächlichen ökologischen Kosten erfasst werden und an den Konsumenten weitergegeben werden. (Die Erfassung der ökologischen Kosten muss dabei zwangsläufig pauschaliert werden. Es sollen keine bürokratischen Monster entstehen.) Die damit einhergehenden steuerlichen Mehreinnahmen müssen vollständig in Maßnahmen zum Klima- und Umweltschutz fließen. Zum Beispiel auch in kostenlosen ÖPNV.

4. Reparaturen attraktiv machen!

Eine wesentliche Stärke des lokalen Einzelhandels (und des Handwerks) ist die Fähigkeit, alte oder defekte Gegenstände wieder instand zu setzen. Fachkompetenz und Kundennähe bedeuten auch, den Bürgerinnen und Bürgern als Partner zur Seite zu stehen, wenn es um die Werterhaltung von Gegenständen geht – und um die Vermeidung unnötiger Entsorgungs- und Wiederbeschaffungskosten. Von einer gestärkten Reparatur-Kultur profitieren nicht nur die Bürgerinnen und Bürger sowie die Fachgeschäfte mit hoher Sachkenntnis, sondern insbesondere ist eine Reparatur-Kultur auch aus ökologischer Perspektive dringend geboten. Der Handel kann sich hier ein zusätzliches Einkommen erwirtschaften. Allerdings wird die Reparatur-Kultur insbesondere von den hohen Kosten von Reparaturen, bedingt durch den Personalaufwand, zumindest sofern sie inländisch ausgeführt werden, gebremst. Eine vollständige Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Reparaturarbeiten könnte diese Arbeiten auch im Inland wieder wettbewerbsfähig machen und der verbreiteten Wegwerf-Mentalität wirkungsvoll entgegentreten.   

5. ÖPNV kostenlos machen!

Damit Ladengeschäfte in der ökologischen Bilanz deutlich vorteilhafter als der online-Handel abschneiden, müssen die Kunden zu Fuß, mit dem Rad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Geschäfte in den Dorfzentren und Innenstädten gelangen. Der Preis des ÖPNV-Tickets ist für die Menschen schlicht ein Teil des Preises der erworbenen Waren. Das Ticket für den Bus oder die Straßenbahn und unattraktive Verbindungen tragen damit dazu bei, dass der online-Handel noch attraktiver erscheint. Wenn wir lebendige Dorfzentren und Innenstädte wollen, in denen attraktive Geschäfte ein vielfältiges Angebot bieten, dann müssen wir den Menschen ermöglichen, dieses auch wirklich zu nutzen. Wir dürfen den Handel nicht mit faktischen Mehrkosten belasten, die Kundinnen und Kunden in den online-Handel treiben. Die Kostenfreiheit des ÖPNV ist daher dringend geboten. Diese ist bundesweit mit 12 Milliarden Euro pro Jahr veranschlagt. Im Vergleich zu dem Schaden, den unsere Dörfer und Städte nähmen, wenn der Einzelhandel verschwände, relativiert sich dieser Betrag. Die Maßnahme wäre zudem ein wirksames Instrument zur Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs. Sobald die Bürgerinnen und Bürger abwägen können, ob sie entweder kostenlos mit Bus und Bahn in die Dorfzentren oder Innenstädte gelangen, oder ob sie auf eigene Kosten (Anschaffungskosten, Unterhaltskosten, Treibstoff, Parkgebühren) das private Fahrzeug nutzen, wird die Entscheidung häufiger für den ÖPNV ausfallen. Einzelhandel, Umwelt, gesellschaftliches Leben und kommunale Entwicklung profitierten davon gleichermaßen.

Es ist Zeit zu handeln. Wir brauchen die sozial-ökologische Wende.