Gebietsreform
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wissenschaftliche Analyse

Studie: Gebietsreform ist Gefahr für Demokratie - spart aber kein Geld!

Stärkung der Selbstverwaltung oder Verlust an Teilhabe und Demokratie? Eine neue Studie von Julia Mattern untersucht die Auswirkungen der Gebietsreform auf die konkrete Kommunalpolitik. Im Gastbeitrag erläutert die Autorin die wichtigsten Erkenntnisse.

Dorf und Gemeinde waren über Jahrhunderte vielerorts in Bayern eine Einheit. In der Gemeinde und damit im Dorf sorgten die Menschen in weitgehender Eigenverantwortung selbst für den Ort und seine oft nur wenige hundert Einwohner. Das Dorf und die Gemeinde boten Partizipationschancen für hunderttausende engagierte Bürger und waren Lernorte für staatlich-kommunale Zusammenhänge und das Einüben aktiver Demokratie. Die kommunale Gebietsreform machte diese Einheit zwischen Dorf und Gemeinde vielfach zunichte. In Bayern verloren zwischen 1969 und 1978 5.021 Gemeinden ihre politische Selbständigkeit.

Die Gebietsreform war im Sinne der Modernisierung

Die Reformer unter der Leitung des bayerischen Innenministers Bruno Merk verstanden die Gebietsreform vor allem als Motor der Modernisierung für den ländlichen Raum. In der Hauptsache sollte die Gebietsreform auf dem Land gleichwertige Lebensverhältnisse wie in der Stadt schaffen, die Verwaltung der Gemeinden effizienter machen und somit insgesamt die kommunale Selbstverwaltung stärken. Dass diese Stärkung der Verwaltung, vor allem  über die bessere Qualifizierung des Personals, geschah, kann nicht übersehen werden.

Allerdings treffen diese stärkere Selbstverwaltung und die größere Bürgernähe nur auf Gemeinden und deren Verwaltungen zu, die nach der Gebietsreform noch bestanden. Für eingemeindete Orte trat eine gegenläufige Entwicklung ein. Für die Modernisierung der Verwaltung ländlicher Gemeinden wurde von Seiten der Reformer ein Verlust an Partizipation für viele tausend Dorfbewohner in Kauf genommen. Denn eine Gemeinde ist neben staatlicher und kommunaler Verwaltungseinheit eben auch Ort der Mitbestimmung, Schule der Demokratie und gesellschaftlicher Mittelpunkt seiner Bürger.

Viele ländliche Gemeinden befanden sich Ende der 1960er Jahre in einer starken Umbauphase: Neue Rathäuser und Schulen waren entstanden, der Bau oder Ausbau von Wasserver- und Abwasserentsorgung war begonnen und teilweise bereits zu Ende geführt worden.

Insbesondere kleine Gemeinden standen unter Druck

In der Phase der Gebietsreform konnten gerade die kleinen Gemeinden besonders leicht unter Druck gesetzt werden. Denn durch ihre oftmals gerade erst getätigten Investitionen hoch verschuldet, waren die zusätzlichen Finanzmittel, die die Reformer den Gemeinden versprachen, ein Anreiz, dem kaum widerstanden werden konnte. Eingemeindungsverträge und Protokolle von Gemeindebesichtigungen, die teilweise noch kurz vor der Gebietsreform durchgeführt wurden, zeigen dann auch, dass es den Bürgermeistern und Gemeinderäten oft darum ging, begonnene Arbeiten zu Ende zu bringen.

Die Situation der später eingemeindeten Dörfer war also beileibe nicht so problematisch, wie das von Seiten der Reformer gerne dargestellt wurde, um die Eingemeindungen zu rechtfertigen. Betrachtet man zur Argumentation der Reformer beispielsweise die kommunale Finanzentwicklung nach der Gebietsreform, kann festgestellt werden, dass die verbliebenen kleinen Gemeinden allgemein nicht schlechter wirtschafteten als große Kommunen.

Dörfer nach Gebietsreform Julia Mattern
"Dörfer nach der Gebietsreform" ist mit Verlag Pustet, Friedrich erschienen und kostet 39,95 Euro. Es beschreibt die Auswirkungen der kommunalen Neuordnung auf kleine Gemeinden in Bayern in den Jahren 1978 bis 2008.

Kostensparend waren die Gebietsreformen nicht

Eine grundsätzliche Kosteneinsparung durch die Gebietsreform kann nicht erkannt werden. Und auch die von den Reformern kritisierten Zweckverbände, zu denen sich viele größere wie kleinere Gemeinden gerade für die Trinkwasserversorgung oder die Abwasserentsorgung zusammengeschlossen hatten, wurden durch die Gebietsreform nicht obsolet. Anscheinend waren sie so praktisch, dass sich oft auch nach der Reform Gemeinden zu Zweckverbänden zusammenfanden, um ihre Aufgaben gemeinsam zu bewältigen.

Die Gebietsreform wirkte sich auf den Repräsentationsgrad aus

Anhand der Studie „Dörfer nach der Gebietsreform. Die Auswirkungen der kommunalen Neuordnung auf kleine Gemeinden in Bayern (1978-2008)“ konnten besonders ungünstige Auswirkungen auf den politischen Repräsentationsgrad der Bevölkerung eingemeindeter Ortschaften erkannt werden. Vertrat vor der Reform oft noch ein Kommunalpolitiker 100 Bürger, konnte das Verhältnis nach der Gebietsreform durchaus bei 1:700 liegen. Damit sanken nicht nur die Chancen der einzelnen Bürger, ihre Anliegen zu Gehör zu bringen, auch die Zahl der Sitze in Stadt- und Gemeinderäten wurde zwangsläufig weniger.

Kommunales Engagement vor Ort war weniger gefragt

Viele tausende Ehrenamtliche drängte die Reform aus der politischen Verantwortung, ihre politische Mitwirkung und ihr kommunales Engagement waren nicht mehr gefragt. Dieses Engagement konnte nach der Gebietsreform auch meist nicht wieder für die neuen Gemeinden aktiviert werden. Nur in einzelnen Fällen erstarkte es durch die Gebietsreform. Das konnte dort geschehen, wo ähnlich große Orte zusammengelegt worden waren und die Menschen am ehesten damit rechnen konnten, dass ihr Engagement auch mit kommunalpolitischer Repräsentanz honoriert werden würde.

Nachteile durch die Gebietsreform für eingemeindete Orte konnten aber auch bei Infrastruktureinrichtungen ausgemacht werden. Denn größere Veranstaltungsgebäude, Sportstätten oder Freibäder wurden meist nur noch in die Hauptorte der jeweiligen Gemeinden gebaut und somit die eingemeindeten Ortschaften weniger beachtet.

Eigenständige Gemeinden waren dafür attraktiver

Ebenso spielten sich die meisten Feste und größeren Veranstaltungen, die die Gemeinden planten und durchführten, in den Zentralorten ab. Kleinere Treffpunkte oder Feierlichkeiten, die auch den eingemeindeten Dörfern zugestanden wurden, kamen meist nur noch auf Anregung der jeweiligen Bevölkerung zustande. Insgesamt kann festgestellt werden, dass bürgerschaftliches Engagement gerade für eingemeindete Dörfer nach der Gebietsreform wichtiger wurde, wenn sie bestimmte Institutionen in ihrem Ort erhalten wollten.

Weitere Auswirkungen, die eingemeindete Gemeinden nach der Gebietsreform trafen, waren eine oft schlechtere Verkehrsanbindung. Zudem wurden durch die nach der Gebietsreform vielfach vorgenommenen Straßenbenennungen die alten Gemeindenamen in der Postanschrift gestrichen. Darüber hinaus ist anhand der Einwohnerzahlen und im Zusammenhang mit der Baulandausweisung eine oftmals schlechtere Bevölkerungsentwicklung in eingemeindeten Orten erkennbar, auch wenn diese in grundsätzlich wachsenden Regionen lagen.

Viele dieser Faktoren gipfeln in den Zahlen der Bodenrichtwerte, die sich in selbständigen Gemeinden und dort vor allem in ihren Zentralorten meist besser entwickelten als in ihren eingemeindeten Ortschaften. Dies zeigt eine höhere Attraktivität der Bauflächen in eigenständigen Gemeinden.

Gebietsreform wirkte sich negativ auf Dorfentwicklung aus

Es kann zusammengefasst werden, dass die Gebietsreform, besonders wenn dabei kleine Dörfer zu neuen Großgemeinden zusammengelegt wurden, sich negativ auf die Entwicklung der Dörfer auswirkte. Besonders schlechte Bedingungen hatten vor allem die kleinen Gemeinden, die in deutlich größere Dörfer oder Städte eingemeindet wurden. Das Kräfteverhältnis zwischen den Ortschaften war dann meist sehr ungleich verteilt und oft fehlten ihnen sogar gewählte und damit voll stimmberechtigte Interessensvertreter in den Gemeinderäten.

Verwaltungsgemeinschaften geben Engagement vor Ort mehr Raum

Deutlich positiver können die bloße Zusammenschließung von Gemeindeverwaltungen, in Bayern Verwaltungsgemeinschaften genannt, bewertet werden. Bei dieser Reform verblieb in kleinen Gemeinden die eigene kommunalpolitische Vertretung - Bürgermeister, Gemeinderäte und das eigene Rathaus. Auch Zweckverbände bei bestimmten Infrastrukturmaßnahmen sind als positiv und sachdienlich einzuschätzen. All diese Zusammenschlüsse tasten nämlich den Bestand und die identitätsstiftende Kraft einer eigenständigen Gemeinde nicht an.

Dieser hohe Wert eines eigenen und überschaubaren Gestaltungs- und Erfahrungsraumes für das Engagement und den Mitbestimmungswillen seiner Bürger sollte bei künftigen Reformüberlegungen deutlich mehr ins Zentrum gerückt werden als dies bei vergangenen Gebietsreformen geschehen ist.