Die Volksparteien haben ihr Ende selbst massiv befördert, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner
Die Volksparteien haben ihr Ende selbst massiv befördert, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner

Forsa Aktuell

Das Aus für die Volksparteien in Deutschland?

Die bevorstehende Bundestagswahl im September markiert eine folgenreiche Zäsur in der Geschichte des demokratischen Deutschlands nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus. So geht die Ära Merkel nach 16 Jahren zu Ende. Der eigentliche Einschnitt aber ist das Ende der Volksparteien, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner.

Nach den Umfragen acht Wochen vor der Wahl hätte eine „Jamaika“-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP, aber auch eine „Ampel“-Koalition aus Grünen, SPD und FDP eine regierungsfähige Mehrheit. Keine Regierung mehr bilden könnten aber die früheren Volksparteien Union und SPD. Beide Parteien hatten lange Jahrzehnte im Nachkriegsdeutschland die Mehrheit der Wahlberechtigten (und nicht nur die Mehrheit derer, die sich auch an einer Wahl beteiligten) an sich gebunden. So hatten bei der Wahl vor Bildung der ersten lange zu Recht als „Große Koalition“ bezeichneten Regierung aus CDU, CSU und SPD im Jahr 1966 fast drei Viertel aller Wahlberechtigten (73,6 Prozent) der Union oder der SPD ihre Stimme gegeben. Bei der zweiten „Großen Koalition“ 2005 hatte immerhin noch etwas mehr als die Hälfte aller Wahlberechtigten (53,1 Prozent) CDU, CSU oder SPD gewählt. Doch bei dem dritten, schon nicht mehr als „Große Koalition“, sondern eher abschätzig als „GroKo“ bezeichneten Bündnis aus Union und SPD 2013 wurden beide Parteien zusammen nur noch von weniger als der Hälfte aller Wahlberechtigten (47,5 Prozent) gewählt. Und 2017 schrumpfte der Anteil der Wahlberechtigten, die der CDU, CSU oder der SPD ihre Stimme gaben, weiter auf nur noch 40,3 Prozent.

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Mit der Ära Merkel endet die Ära der Volksparteien 

Dass beide Parteien nach dem 26. September aber – anders als noch 2013 und 2017 -  auch keine Mehrheit der Mandate mehr haben, markiert neben dem Ende der Ära Merkel und einer neuen Koalitionskonstellation die eigentliche Zäsur der bevorstehenden Wahl, nämlich das Ende der Volksparteien. Entspräche die acht Wochen vor der Bundestagswahl ermittelte politische Stimmung in etwa auch den Stimmen am Wahltag, dann würden Union und SPD zusammen von noch nicht einmal einem Drittel aller Wahlberechtigten gewählt. Mehr als zwei Fünftel der Wahlberechtigten (44 Prozent) würden eine der anderen Parteien, ein Viertel (25 Prozent) gar nicht wählen.

Die durch die frühere Fähigkeit von CDU, CSU und SPD, verschiedene Wählergruppen mit unterschiedlichen Interessen und Wertvorstellungen zu bündeln, lange Zeit garantierte Stabilität des politischen Systems, die für den gelungenen zweiten Versuch, die Demokratie in Deutschland zu etablieren, verantwortlich war, droht nun verloren zu gehen. Keine neue politische Bewegung kann nämlich ähnliche Bindekräfte wie früher Union und SPD entfalten. Auch die Grünen sind weit davon entfernt, eine Partei zu sein, die alle Schichten des Volkes bündeln kann. Die Grünen bleiben trotz ihres im Vergleich zu früheren Wahlen großen Stimmenzuwachses eine Klientelpartei für die oberen sozialen Schichten – häufig konzentriert in den urbanen Metropolen und im Dunstkreis des öffentlichen Dienstes. Und die zunächst auf kommunaler, dann aber auch auf Landes- und Bundesebene zunehmende Zahl kleiner und kleinster Splitterparteien kann nicht positiv als eine wünschenswerte Repräsentation der Meinungsvielfalt in der Gesellschaft gewertet werden. Die in vielen Kommunen schon gemachten negativen Erfahrungen mit der Vielfalt kleiner politischer Gruppierungen deuten vielmehr darauf hin, dass diese Zersplitterung zur Instabilität des politischen Systems führt. Hinzu kommt, dass viele Anhänger der Splitterparteien keinesfalls lupenreine Demokraten sind. Neben den Anhängern der AfD, die mit übergroßer Mehrheit das gegenwärtige demokratische System ablehnen, findet sich unter den Anhängern der Splittergruppen der höchste Anteil von mit der Demokratie in Deutschland Unzufriedenen (35 Prozent).

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Die Volksparteien haben ihren Untergang selbst hervorgerufen 

Dabei hatte die Corona-Krise gezeigt, dass viele Bürger weiterhin durchaus eher bereit wären, einer Partei, die dem Modell der Volkspartei entspricht, die Stimme zu geben als einer Klientelpartei. Der Anstieg der Werte der Union nach Ausbruch der Pandemie 2020 bis fast an die 40-Prozent-Marke zeigt, wie viele Wähler honorierten, dass sich CDU und CSU mit ihren in der Pandemie-Bekämpfung wichtigen politischen Akteuren (Merkel, Söder und Spahn in seiner guten Zeit) in erster Linie um das kümmerten, was den Menschen wirklich wichtig war – und das war und ist in der Corona-Krise die Bekämpfung der Pandemie. Doch in dem Maße, wie sich die CDU wieder mehr mit sich selbst statt mit der Bewältigung der Corona-Krise beschäftigte, sanken die Werte der Union wieder kontinuierlich. Und als dann nach der Nominierung von Armin Laschet zum Kanzlerkandidaten von CDU und CSU vielen immer bewusster wurde, dass die bei der Bekämpfung der Pandemie sichtbaren und bis heute populärsten politischen Akteure der Union entweder – wie Merkel – aus der Politik ausscheiden oder – wie Söder – nur noch eine regional begrenzte Rolle spielen, fiel die Union unter die 30-Prozent-Marke. Sie muss mit einem Kanzlerkandidaten, dem kaum positive Eigenschaften zugebilligt werden, sogar darum bangen, das Kanzleramt überhaupt wieder besetzen zu können.

Mit der Bundestagswahl 2021 geht also die Ära der Volksparteien endgültig zu Ende und die negativen Erfahrungen mit der Zersplitterung des Parteiensystems, die die Kommunen gemacht haben, dürften sich jetzt auch auf Bundesebene fortsetzen.

Auch der Trend zur Briefwahl hat mit dem Ende der Volksparteien zu tun... 

Dazu gehört auch, dass die zu erwartende hohe Zahl von Briefwählern auch die Abläufe der Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse vor einer Wahl drastisch verändern wird. Wie die große forsa-Wahlstudie (in Kooperation mit Prof. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim) zeigt, wollen viele Wahlberechtigte ihre Stimme schon unmittelbar nach Erhalt der Wahlunterlagen per Briefwahl abgeben. Das hat nicht nur Konsequenzen für die Organisation der Wahl durch die Wahlämter, sondern der Wahlkampf der Parteien muss sich darauf einstellen, dass viele Wähler ihre Stimme schon lange vor dem eigentlichen Wahltermin abgeben.