Die Kindergrundsicherung ist keine Lösung - wir brauchen einen Neustart der Sozialpolitik, sagt unser Zukunftsforscher
Die Kindergrundsicherung ist keine Lösung - wir brauchen einen Neustart der Sozialpolitik, sagt unser Zukunftsforscher
© fotolia

Kommunalisierung

Armutsbekämpfung - die Kindergrundsicherung ist nicht die Lösung

Deutschland gibt viel Geld für Sozialleistungen aus, doch viel zu viel Geld davon verpufft. Jüngstes Beispiel ist die geplante Kindergrundsicherung. Es braucht einen sozialpolitischen Neustart, fordert unser Zukunftsforscher Daniel Dettling. Im Gastbeitrag beschreibt er, wie dieser aussehen kann.

Deutschland gehört zu den 20 reichsten Ländern der Welt und hat dennoch ein gravierendes Armutsproblem: Das Land liegt im unteren Mittelfeld der OECD-Staaten, wenn es um die Zahl der Kinder und Jugendlichen geht, die in Armut aufwachsen. Jedes vierte Kind oder Jugendlicher unter 18 Jahren wächst hierzulande in Armut auf oder ist armutsgefährdet. Die Quote ist umso höher, je niedriger der Bildungsstatus der Eltern. Zwei Drittel der betroffenen Kinder leben länger als fünf Jahre oder dauerhaft oder wiederkehrend in Armutslagen, Alleinerziehende stellen die größte Gruppe der Armutsgefährdeten.

Mehr als 150 familien- und ehebezogenen Leistungen leistet sich Deutschland und liegt mit über 3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts, gut 120 Milliarden Euro, im oberen Mittelfeld der EU. Viel Input für wenig Outcome. Familienpolitisch gibt es einen Mismatch zwischen der Höhe der Transfers und ihren Ergebnissen. Die im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung angekündigte „Kindergrundsicherung“ soll kind- und familienbezogene Leistungen bündeln, die bürokratischen Hürden minimieren und Stigmatisierung der betroffenen Familien vermeiden. Bundesfamilienministerin Lisa Paus will die Kinder „aus dem Bürgergeld holen“. Die Eltern, bei denen sie leben, beziehen diese Leistung jedoch weiterhin.

Kindergrundsicherung ist keine Lösung - der deutsche Sozialstaat ist ein Sanierungsfall 

Die Idee ist bestechend einfach, kann aber nur im Gesamtpaket eines sozialpolitischen Neustarts wirken, der die Ursachen von Armut bekämpft und den Sozialstaat vom Kopf auf die Füße stellt. Der Normenkontrollrat der Bundesregierung hat diese erst jüngst in einem neuen Gutachten als „Komplexitätsfalle“ anhand eines Beispiels beschrieben.

„In dem Beispielfall ist es heute so: Der Haushalt erhält Kindergeld und Kinderzuschlag bei der Familienkasse, Wohngeld und Leistungen für Bildung und Teilhabe der Kinder beim Wohngeldamt, Arbeitslosengeld von der Arbeitsagentur, Sozialhilfe und Hilfe zur Pflege beim Sozialamt. Daneben gibt es Leistungen von Kranken- und Pflegekasse. Und Absetzung der Kinderbetreuungskosten sowie den Alleinerzieherfreibetrag beim Finanzamt. Noch umständlicher ist die Abwicklung durch die vielen Ämter. Denn die Höhe einer Hilfe hängt oft von der Höhe einer anderen ab, die sich wiederum nach dem individuellen Einkommen richtet. Obendrein sind wichtige Prüfkriterien je nach Sozialleistung im jeweiligen Gesetz unterschiedlich definiert. Ergebnisse der einen Antragsprüfung lassen sich dann schlecht zur Klärung anderer Ansprüche nutzen. Für die 12 Leistungen im Musterfall seien „mindestens vier verschiedene Einkommensbegriffe und drei verschiedene Begriffe der häuslichen Lebensgemeinschaft anzulegen", zeigt die Studie. Und sollte „ein künftiges Arbeitseinkommen des Vaters über der Freigrenze liegen und schwankend sein, ist die Berechnung monatlich neu vorzunehmen". Zudem drohten ihm Rückforderungen durch die Wechselwirkungen zwischen den Leistungen. 

Die Bürokratie und das Vertrauen in den Sozialstaat 

Mehr Bürokratie bekämpft man nicht mit mehr Bürokratie. Die Kindergrundsicherung ist das beste aktuelle Beispiel. Von den derzeit 2,7 Milliarden eingeplanten Mittel für den Start der Kindergrundsicherung sind 500 Millionen für den Aufbau einer neuen Behörde mit 5.000 Stellen veranschlagt. Dabei hat sich das Bundesfamilienministerium selbst zu Beginn der Legislatur in einer Studie eine nationale Präventionsstrategie aufschreiben lassen. Präventionsnetzwerke beginnen bei den Kommunen, werden von den Bundesländern unterhalten und gestaltet, der Bund bündelt kindbezogene Leistungen und sorgt für Arbeits- und Integrationsanreize. Eine neue Leistung wie die Kindergrundsicherung kann nur mit Kommunen und Ländern funktionieren. Erforderlich ist eine Gesamtstrategie, die eine Reform der finanziellen Leistungen, präventive Ansätze und die Stärkung der sozialen Infrastruktur von der Kita über die Schule bis zur Erwerbsintegration der Eltern umfasst. 

Eine nationale Präventionsstrategie gegen Armut hat es leider nicht in den Koalitionsvertrag geschafft. Stattdessen werden dort die Kindergrundsicherung und das Bürgergeld als entscheidende Waffen gegen Armut gehandelt. Beide Instrumente sind erwiesenermaßen teuer, bürokratisch und ineffektiv im Hinblick auf das Ziel der Armutsbekämpfung. Die Kindergrundsicherung wird in der heute diskutieren Form daher nicht kommen.

Auch das Bürgergeld gehört reformiert - wie das funktionieren kann 

Beim Bürgergeld sollte der Bund umsteuern. Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund mit mehr als 30 Prozent sind häufiger von Armut bedroht als Kinder aus Familien ohne Migrationshintergrund. Niedriger Bildungsstand und unzureichende Erwerbsbeteiligung sind die Hauptursachen für Armut. Unter den erwerbsfähigen Empfängern von Bürgergeld sind in den reicheren Bundesländern Hessen, Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen mehr als zwei Drittel Menschen mit Migrationshintergrund. Rund vier Millionen Erwerbsfähige beziehen heute insgesamt Bürgergeld. Für alle Bürgergeldempfänger kalkuliert der Bund mit 44 Milliarden Euro, die Hälfte davon geht an Menschen mit Migrationshintergrund. Mit einem Mix aus positiven Anreizen, besserer Sprachförderung und Kinderbetreuung ließen sich rund eine Millionen Empfänger in reguläre Beschäftigung bringen. Eine Million weniger Arbeitslose sind umgerechnet 26 Milliarden Euro inklusive entgangener Steuern und Sozialversicherungsbeiträge.  

Der deutsche Sozialstaat ist ein Sanierungsfall. So schreibt es der Normenkontrollrat in dem zitierten Gutachten. Er wirke wie ein altes, immer wieder umgebautes Haus. Irgendwann findet keiner den Weg mehr hinaus, das Haus droht zu kippen. Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Staates erodiert. Den Schaden haben die Beitrags- und Steuerzahler. Den Nutzen die Populisten von rechts und links. Der Bundesregierung fehlt der Mut für einen Neustart in der Sozialpolitik.