Lesen in einem Buch Symbolbild
Lesen lernen - das geht auch als Erwachsener.
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Bildung

Wie Kommunen Analphabeten unterstützen

6 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Jeder achte Erwachsene ist betroffen. Wo sie in den Kommunen Hilfe bekommen. Unser Deutschland-Bildungs-Report

Es sind Orte wie die Kreisvolkshochschule in Uelzen. Seit einigen Jahren werden hier Grundbildungskurse angeboten und erlebt Janina Fuge, die Programmbereichsleiterin für Sprachen, Projekte und Grundbildung, immer wieder kleine, aber auch große Erfolge bei den Teilnehmern. Der wichtigste Schritt sei, „dass die Betroffenen überhaupt erstmal kommen“, sagt Fuge. Oft bewältigten sie ihren Alltag wirklich gut und hätten sich erstaunlich gut angepasst, sagt die Programmleiterin.

Kurse für Analphabeten

Ein häufiger Einschnitt sei die Einschulung der eigenen Kinder. „Oft kommt dann etwas in Bewegung“, so Fuge, und entsprechend hilfreich ist es, die Kindergärten und Schulen als zentrale Ansprechpartner einzubinden. Was die Kurse selbst anbelangt, hat man in Uelzen versucht, die Hürden so niedrig wie möglich zu machen. „Unsere Kurse werden durchlaufend angeboten, die Klienten können jederzeit einsteigen und haben keine Kosten“, betont Fuge. Die Erfahrungen sind gut, auch wenn die Kurse nur von wenigen Teilnehmern besucht werden und deshalb für den Bildungsträger oft ein Zuschussgeschäft sind. Doch der Aufwand lohnt sich, wie die Programmleiterin weiß: „Die Kurse geben den Menschen Stabilität und natürlich ein enormes Selbstbewusstsein, wenn sie irgendwann Lesen und Schreiben können“, so Fuge

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Kommunales Förderprogramm Schule

Diese Erfahrung macht man auch an der Abendakademie in Mannheim. Sie ist eine Tochtergesellschaft der Stadt, die mit dem Alpha-Siegel ausgezeichnet wurde und eines von acht Grundbildungszentren in Baden-Württemberg ist. Die Grundbildung ist in der Zuwanderungsstadt Mannheim schon seit langem ein Thema, das auch politisch stark unterstützt wird, wie Bildungsbürgermeister Dirk Grunert sagt. Parallel zur Grundbildung im Erwachsenenalter baut die Kommune zudem auf Prävention. „Wir setzen in Mannheim so früh wie möglich an, damit so wenig Schüler wie nur irgendwie möglich aus dem System herausfallen“, sagt Grunert.

Ein Beispiel hierfür ist das kommunale Förderprogramm „MAUS – Mannheimer Unterstützungssystem Schule“, das seit dem Schuljahr 2008/2009 umfangreiche Zusatzangebote an allgemeinbildenden Schulen ermöglicht und von der Stadt mit jährlich 500.000 Euro gefördert wird. Damit all diese Ansätze Früchte tragen, braucht es laut Grunert engagierte und sensibilisierte Mitarbeiter, die die Bedeutung ihrer Aufgabe erkennen. Die größte Herausforderung aber sei es nach wie vor, die betroffenen Menschen zu erreichen. „Es geht hier noch immer um ein großes Tabu“, so Grunert. „Menschen verstecken sich oft und haben geschickte Strategien entwickelt, um das Lesen und Schreiben zu umgehen. Entsprechend schwierig ist es, an die Leute heranzukommen, damit sie sich öffnen und helfen lassen“.

Alfa-Mobil für Kommunen
Das ALFA-Mobil ist in Kommunen unterwegs und bietet Hilfsangebote für Betroffene.

Info-Material für Analphabeten bei Terminen



Wie erreicht man die Betroffenen? Diese Kernfrage stand auch am Beginn des Projekts „Knotenpunkte für Grundbildung“ in Trier, das sich seit seinem Start 2018 mittlerweile in der zweiten Förderphase befindet. „Es gibt hier natürlich eine Volkshochschule, die auch Grundbildungskurse anbietet. Nur findet da kaum jemand hin“, so die Projektleiterin Nina Krämer-Kupka. Um die Menschen dennoch zu erreichen, werden im Rahmen des Projekts integrierte Konzepte erarbeitet. „Wir haben uns auf die Lebenswelt der Betroffenen konzentriert und uns gefragt: Wo gehen sie sowieso hin, wo sind Kontaktstellen und –personen im sozialen Bereich, mit denen sie zu tun haben?“, schildert Krämer-Kupka den Projektansatz. Herauskristallisiert haben sich Stellen wie das Jugendamt, das Jobcenter, das Familienzentrum oder die Handwerkskammer und für diese wurde in Folge spezielles Material erarbeitet.

Die Idee dabei: Wenn ein Betroffener ohnehin einen Termin bei einer dieser Stellen hat, soll er dort auf Material stoßen, das auch jemand versteht, der Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat, und durch diese Erfahrung im besten Fall dazu angeregt werden, sich weiter zu schulen. „Es war uns wichtig, so nah wie irgendwie möglich an der Praxis zu sein, deshalb sind wir auch im ständigen Austausch mit den Stellen und bekommen hier wertvolle Rückmeldungen“, so die Projektleiterin. Ergänzend findet ein intensives Coaching der kommunalen Einrichtungen statt, bei dem eine entsprechende Sensibilität in der Wahrnehmung der Klienten geschult wird. „Im besten Fall ist die Kommune ein Ort, an dem lebenslanges Lernen stattfinden kann“, so Krämer-Kupka. Für den Einzelnen öffnet sich mit der Fähigkeit, Lesen und Schreiben zu können, eine neue Welt, die ihm vorher verschlossen war.

Janina Fuge, Volkshochschule Uelzen

Der wichtigste Schritt ist, dass die Betroffenen überhaupt erstmal in die Kurse kommen.“

Janina Fuge, Volkshochschule Uelzen

Was aber hat das für Folgen für die jeweilige Kommune, in der er lebt? „Betroffene sind in der sozialen Teilhabe und der politischen Mitwirkung stark eingeschränkt. Sie meiden vieles, trauen sich häufig nicht zur Wahl und haben Angst davor, Kontakt aufzunehmen. Dadurch sind sie auch seltener in Vereinen dabei und weniger sozial engagiert“, sagt Nicole Pöppel, die Geschäftsführerin des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung. Zudem habe Analphabetismus insbesondere auf dem Arbeitsmarkt Auswirkungen.

40 Prozent nicht erwerbstätig

Nur 60 Prozent der Betroffenen sind erwerbstätig, viele davon im Niedriglohnbereich und so geht es also immer auch um hohe Folgekosten für die gesamte Gesellschaft. Ebenso brach liege der Bereich der politischen und zivilgesellschaftlichen Teilhabe. „Hier wird viel Potential liegen gelassen“, so Pöppel. Die zurückgezogene Haltung der Eltern erhöhe das Risiko für die Kinder der Betroffenen, selbst keine ausreichende Grundbildung zu erhalten. „Analphabetismus betrifft jede Kommune“, so Pöppel. „Wenn man möchte, dass die Gesellschaft funktioniert, ist es extrem wichtig, in die Grundbildung zu investieren“. Neben allen kommunalunterstützten Angeboten frühkindlicher Förderung bieten insbesondere die Stellen mit direktem Bürgerkontakt die Chance, Betroffene zu erkennen und anzusprechen.

„Gerade in Veränderungssituationen sind Menschen erfahrungsgemäß gut zu erreichen" stellt Nicole Pöppel fest. Entsprechend wichtig seien Sensibilisierungsschulungen etwa für die Mitarbeiter des Jugendamts, des Bürgerbüros oder des Jobcenters und darüber hinaus auch für Erzieher, Sozialarbeiter bis hin zum medizinischen Personal. „Für Betroffene spielt das direkte Lebensumfeld eine große Rolle, oft sind sie nicht sehr mobil. Entsprechend entscheidend können die Kontakte und Begegnungen in der Kita, der Schule und der Gemeinde sein. Der Kommune kommt hier eine ganz besondere Rolle zu.“

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