Viele offene Fragen nach dem Dorfteich Urteil - vor dem Landgericht wird der Fall nun wieder aufgerollt
Viele offene Fragen nach dem Dorfteich Urteil - vor dem Landgericht wird der Fall nun wieder aufgerollt
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Berufungsprozess

3 Kinder im Dorfteich ertrunken - Ex-Bürgermeister erneut vor Gericht

Es war vermutlich der am häufigsten kommentierte Beitrag auf unserer Webseite und den sozialen Medien seit Bestehen von KOMMUNAL. Erstmals wurde in Deutschland ein Bürgermeister wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, weil er angeblich seiner Sicherungspflicht an einem Dorfteich nicht nachkam. Hunderte Kommunen sperrten nach unseren Berichten vorsorglich ihre Gewässer und Badeseen ab. Jetzt wird der Fall vor dem Landgericht neu aufgerollt. Am Mittwoch war der erste Prozesstag - mit neuer Beweisaufnahme und einem neuen Versicherungsschreiben.

Vor über sechs Jahren starben in einem Dorfteich in Neukirchen in Hessen drei Kinder durch Ertrinken. Der vermutliche Hergang des tragischen Unglücks: Die Kinder spielten in der Nähe des Gewässers, eines der Kinder fiel ins Wasser. Der vermutlich Grund: Die Pflastersteine am Ufer waren rutschig geworden. Vermutlich versuchten die beiden anderen Kinder daraufhin, das Kind, das ins Wasser gefallen war zu retten und verunglückten ebenfalls.

Das zuständige Amtsgericht im Schwalm-Eder Kreis in Hessen machte damals den Bürgermeister der Gemeinde, Klemens Olbrich für das Unglück mitverantwortlich. Die Richterin war der Ansicht, dass ein Bürgermeister eine grundsätzliche Verantwortung für die Sicherung aller Gewässer in seinem Ort trägt. Hintergrund: Der Teich war Jahre zuvor saniert worden, dabei war ein Teil des Ufers mit diesen Pflastersteinen befestigt worden. Der Bürgermeister hätte wissen müssen, dass solche Steine mit der Zeit rutschig werden. Das Gelände hätte dann entsprechend abgesperrt werden müssen. 

Der Anwalt des Bürgermeisters ging gegen das Urteil vor, verglich es mit einer Straße, auf der Autos fahren. Die könne man ja auch nicht komplett absperren, immerhin gehe von einer Straße auch grundsätzlich eine Gefahr aus. Das Urteil damals vor Gericht lautete auf fahrlässige Tötung. 

Gestern nun hat vor dem Landgericht Marburg der Berufungsprozess begonnen. 

Versicherungsgutachten zum Dorfteich steht im Mittelpunkt 

Am ersten Verhandlungstag ging es offiziell zum ersten Mal um das Schreiben der GVV Kommunalversicherung aus dem Jahr 2014. Dieses Schreiben will der damalige Bürgermeister erst nach dem Urteil des Amtsgerichts überhaupt gesehen haben. Es war erst wenige Tage nach dem Urteil in der Öffentlichkeit aufgetaucht. 

In dem Schreiben der Mitgliederversicherung für Städte und Gemeinden hatte die Versicherung den Teich als verkehrsgefährlich eingestuft. Aus haftungsrechtlichen Gründen empfahl sie der Kommune, das Gelände einzuzäunen. 

Das Gericht war bisher immer der Ansicht, dass Bürgermeister Klemens Olbrich das Schreiben gekannt haben muss. Darauf deutet ein Sichtvermerk des Bürgermeisters hin. Olbrich argumentiert aber, ihm sei zwar der Brief im Jahr 2014 vermutlich vorgelegt worden. Er habe aber weder auf den Betreff noch auf den Inhalt geschaut, sondern lediglich das Logo des Versicherers wahrgenommen. Er sei davon ausgegangen, es handle sich um ein "normales Versicherungsschreiben" und habe es an die zuständige Abteilung weitergeleitet. Er habe auch keinen Vermerk "Bitte um Rücksprache" eingefügt, wie er das sonst bei wichtigen Themen mache. Warum das Schreiben von seiner Abteilung später nicht bearbeitet wurde, kann Olbrich sich nur schwer erklären. 

Viele Ungereimtheiten bleiben und werden neu aufgerollt 

Mehrfach wurde Olbrich in der Vergangenheit vorgeworfen, er habe das Schreiben der Versicherung bewusst zurückgehalten. Das weist er ab auch vor dem Landgericht noch einmal massiv zurück. Im Nachgang des damaligen Urteils zeigte sich Olbrich bereits schockiert, als er einen Peilsender an seinem Auto fand. Ganz offensichtlich steht der Fall im Zusammenhang mit den Gerüchten über das Zurückhalten. KOMMUNAL hatte damals über den Peilsender und die Hintergründe berichtet. 

Auch sonst sind noch viele Fragen offen. Drei Personen, die im Prozess gegen Olbrich als Zeugen vernommen worden waren, hat die Staatsanwaltschaft wegen uneidlicher Falschaussage angeklagt. Sie sollen das Schreiben bewusst verschwiegen haben, um eine Verurteilung Olbrichs zu verhindern. Einem Bericht der „Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen“ zufolge sind die drei Männer auch im Berufungsprozess am Landgericht Marburg als Zeugen geladen. Aufgrund der gegen sie geführten Verfahren haben sie jedoch das Recht, die Aussage zu verweigern, sollten sie sich damit selbst belasten.

Schon nach Bekanntwerden der Anklage hatte ein Bürger eine Petition gestartet, nach der Verurteilung demonstrierten 150 Menschen, um ihre Solidarität mit dem Bürgermeister auszudrücken, wie es hieß. Auch Bürgermeister anderer Gemeinden kamen zur Urteilsverkündung, um ihren Amtskollegen zu unterstützen. Der Fall sei völlig klar, sagten sie. Niemand könne ernsthaft Olbrich für eine solche Tragödie verantwortlich machen.

War der Dorfteich wirklich gefährlich? Die rechtlichen Hintergründe und Konsequenzen 

Unklarheit herrscht damit auch nach dem ersten Verhandlungstag vor dem Landgericht, ob ersichtlich war, dass der Dorfteich eine potentielle Gefahr darstellt, die über die normale Gefahr eines Gewässers hinausgeht. "Es gab keine Hinweise aus der Bevölkerung, auch nicht von professionellen Dritten", so der ehemalige Bürgermeister. Die Notwendigkeit von Sicherheitsmaßnahmen sei weder in der Verwaltung noch in der Bevölkerung je Thema gewesen. Andernfalls wären natürlich entsprechende Maßnahmen ergriffen worden. 

Offen auch die Frage nach der möglichen Mitschuld der Eltern: Mehrere Anwohner hatten berichtet, dass die Dorfbewohner den Vater der Kinder zuvor immer wieder darauf hingewiesen hätten, er müsse besser auf seine Kinder aufpassen. Denn diese seien - so heißt es in einer Online-Petition, die sich für den Bürgermeister eingesetzt hat - "überall mit dem Fahrrad herumgefahren, auch mitten auf der Straße". Das ganze Dorf sei für die Kinder ein "Abenteuerspielplatz" gewesen. 

An dem Dorfteich selbst gab es übrigens das übliche Hinweisschild: "Betreten auf eigene Gefahr. Eltern haften für ihre Kinder". In dem Zusammenhang erklärten diverse Sachverständige immer wieder, dass ein solches Schild eben nicht automatisch den Eigentümer aus der Haftung befreit. Mehrere Gerichte, unter anderem das Oberlandesgericht Bamberg, hatten in anderen Fällen so geurteilt. In Bamberg etwa ging es um das Schild "Betreten auf eigene Gefahr" in einem Parkhaus ( 1 U 107/03 )

Im Nachgang des Urteils hatten zahlreiche Kommunen zunächst ihre Badestellen vorsorglich abgesperrt. In diversen Bundesländern wurden daraufhin Gesetzesverfahren eingeleitet, um die Haftungsfrage zu klären. Schleswig-Holstein ging dabei am Weitesten in seiner Unterstützung für Kommunen. KOMMUNAL hatte damals über den Gesetzesantrag berichtet, der später beschlossen wurde. 

Das Landgericht hat nach dem ersten Verhandlungstag nun drei weitere Verhandlungstage angesetzt. Der Fall soll umfassend neu aufgerollt werden. Bestätigt das Landgericht Marburg das Urteil der Erstinstanz, besteht die Möglichkeit der Revision. Dann müsste der Bundesgerichtshof entscheiden. Bis es in der Sache ein rechtskräftiges Urteil gibt, kann es also noch sehr lange dauern.

HIER finden Sie noch einmal unseren Bericht vom damaligen Urteil gegen den Bürgermeister sowie unserem damaligen Kommentar zum Thema:

 

 

Die Reaktionen auf das Urteil waren enorm - hier kommen Bürgermeister und Experten zu Wort und schildern ihre Meinung zum Urteil und die Auswirkungen des Urteils: